Выбрать главу

Als Raul vorbeikam, bemerkte er die schamlosen Interessenbekundungen des Mädchens. Er grinste. «Soll ich Wache schieben, solange ihr zwei euch ein bisschen näher kennenlernt?»

Wayland errötete.

«Du hattest noch nie ein Mädchen, stimmt’s?»

Wayland hielt den Kopf gesenkt und nähte weiter.

«Und betrunken hab ich dich auch noch nie gesehen. Oder fluchen hören. Du bist der reinste Mönch.»

«Es gibt Schlimmeres.»

Raul ging neben Wayland in die Hocke. «Ich sag dir, was mit den Mönchen nicht stimmt. Jeden Tag ihres Lebens meiden sie die Schänken und Hurenhäuser, und dann, ohne je richtig gelebt zu haben, sterben sie, damit es in Ewigkeit genauso langweilig weitergeht. Was daran ist so verlockend?»

«Raul», rief Vallon. «Mach dich wieder an die Arbeit.»

Raul zwinkerte Wayland zu. «Lebe heute, das ist mein Motto. Weil es nämlich sein kann, dass dich morgen schon der Tod ins Ohr zwickt und zu dir sagt: ‹Komm, mein Jungchen. Zeit zu gehen.›»

An diesem Tag stellten sie zwei weitere Plankengänge fertig und nähten zehn Webstücke zusammen. Nach drei weiteren Tagen war der Schiffsrumpf repariert. Das Ruder lag bereit und musste nur noch eingehängt werden, das Segel war nahezu fertig, und die Marschenleute hatten den Wasserlauf vertieft.

Nach einer Woche saßen sie beim Essen um ein Lagerfeuer aus Treibholz, aus dem Flammen in allen Regenbogenfarben aufloderten. Raul spann höchst zweifelhaftes Seemannsgarn über Schlachten in fremden Ländern. Snorri erzählte noch einmal die Saga von seinem getöteten Befehlshaber, Harald Hardrade, dem «Donnerkeil aus dem Norden», der während seiner Verbannung aus Norwegen zuerst für die Russen und anschließend für die Byzantiner gekämpft hatte, um dann nach Norwegen zurückzukehren und seinen Anspruch auf den Thron durchzusetzen, und der mit einem Pfeil im Bauch auf dem Schlachtfeld von Stamford Bridge gestorben war.

Als Snorri geendet hatte, legte sich friedliches Schweigen über die Runde. Das Feuer knackte, und der fleckige Mond stand hoch über ihnen.

«Hero», sagte Vallon, «warum erzählst du uns nicht die Geschichte vom Priesterkönig Johannes und seinem sagenhaften Reich?»

Alle sahen erwartungsvoll auf.

«Ihr macht Euch über mich lustig», brummte Hero.

«Los», drängte Richard. «Bitte erzähl sie uns.»

Hero zuckte mit den Schultern und begann scheinbar gleichgültig zu sprechen. «Priester Johannes ist der Herrscher und Hohepriester eines Reiches, das an den Paradiesgarten angrenzt, in dem Adam erschaffen wurde. Mehr als siebzig Könige zahlen ihm Tribut. Wenn er in den Krieg zieht, reitet er auf einem Elefanten und trägt ein goldenes Kreuz von zwanzig Fuß Höhe. Zu seinen Untertanen gehört eine Königin, die über hunderttausend Frauen befielt, die so tapfer kämpfen wie Männer. Diese Kriegerinnen werden Amazonen genannt, weil sie sich die rechte Brust abgenommen haben, um den Bogen leichter spannen zu können. Einmal im Jahr erlauben sie den Männern aus dem Nachbarland einen Besuch, um ihre Lust zu befriedigen. Wenn ein Mann die zugestandene Zeit für seinen Besuch überschreitet, wird er getötet.»

Hero blickte auf. Die anderen sahen ihn mit offenen Mündern an.

«Die Reichtümer», sagte Vallon. «Vergiss die Reichtümer nicht.»

Hero lächelte. «Priester Johannes lebt in einem Palast mit einem Dach aus Elfenbein und kristallenen Fenstern. Über den Giebeln hängen Goldäpfel, in die Karfunkelsteine eingesetzt sind, sodass das Gold bei Tag und die Karfunkelsteine bei Nacht leuchten. Er speist an einem Tisch aus Smaragd, der auf Beinen aus Elfenbein ruht, und er schläft in einem Bett aus Saphir. Die Edelsteine stammen aus einem Fluss, der von sieben Tagen nur drei Tage fließt. Und die Juwelen sind so groß und kommen in solchen Mengen vor, dass auch die einfachen Leute von Tellern essen, die aus Topas und Beryll geschnitten wurden. Priester Johannes heißt alle Fremden und Pilger willkommen und überhäuft sie mit Schätzen, bevor sie weiterziehen.»

Raul ließ sich auf den Rücken fallen und trommelte mit den Fersen auf den Boden.

«Das einzige Problem dabei ist», sagte Vallon, «dass niemand den Weg zu diesem Königreich kennt.»

Raul rollte sich hoch und schlug Wayland aufs Bein. «Wie wär’s, wenn du und ich es suchen gehen?»

Wayland schüttelte den Kopf und sah lächelnd ins Feuer. Auch wenn er sich im Hintergrund hielt und wenig sprach, fühlte er sich nicht ausgeschlossen. Und mit der Zeit hatte er ein bisher ungekanntes Gefühl entwickelt – das Gefühl der Zugehörigkeit.

Am nächsten Morgen rieb er gerade Talg ins Segeltuch, um es winddicht zu machen, als der Hund die Ohren aufstellte und zum Wasser lief. Wayland folgte ihm und lauschte auf ungewöhnliche Geräusche. Gleich darauf stakte der Vogler heran.

Wayland begriff, dass sie entdeckt worden waren. «Soldaten?»

«Ja. Acht. Sie kommen mit dem Boot aus Richtung Lynn.»

Die anderen kamen hinzu, und Wayland erklärte, was los war.

«Das sehen wir uns am besten einmal genau an», sagte Vallon. «Wayland, du gehst mit dem Vogler. Raul, hol deine Armbrust.»

Der Vogler führte sie bis dicht ans offene Meer und hob die Hand. Wayland vernahm schwache Stimmen. Er gab Vallon und Raul ein Zeichen. Zu dritt stiegen sie aus dem Boot und wateten durchs Schilf, wobei sie einen Bogen um die Stimmen schlugen. Vallon und Raul bewegten sich zu schwerfällig. Wayland bedeutete ihnen stehen zu bleiben und schlich geduckt alleine weiter.

Vorsichtig teilte er mit den Händen das Schilf. Das Schiff ankerte vor der Mündung des Wasserlaufs. Drei Soldaten waren mit der Besatzung an Bord geblieben. Vier standen bei Snorris Hütte. Und ein fünfter musterte das Marschland und versuchte sich zu orientieren, während ihm ein stämmiger, bärtiger Mann eine Richtung anzeigte und ihm offenbar den Weg erklärte.

Wayland zog sich wieder zurück. «Sie wissen, dass wir hier sind. Sie werden von dem Mann geführt, der Hero und Richard hergebracht hat.»

Vallon nahm seinen Nasenrücken zwischen Daumen und Zeigefinger. «Das Schiff ist bisher nur ein Gerücht. Wayland hat es vor … wann war das? … neun oder zehn Tagen entdeckt. Seitdem hat uns niemand hier gesehen. Sie können nicht sicher sein, dass wir in den Marschen sind.» Raul schniefte und spuckte aus. «Bei allem Respekt, Hauptmann, Euer Arsch erregt ganz schön viel Aufmerksamkeit. Morgen rücken sie hier mit einer Armee an.»

Vallon tauchte eine Hand ins Wasser. «Wann ist der Höchststand der Flut?»

«Kurz vor Mitternacht», sagte Wayland.

«Bis dahin haben wir das Schiff nicht fertig. Also müssen wir es bei der nächsten Flut versuchen. Wayland, du bleibst als Wache hier. Wenn es dunkel wird, erstattest du uns Bericht.»

«Sie könnten einen Boten über Land zurückschicken und über Nacht hier warten», sagte Raul. «Wenn sie das tun, müssen wir uns unseren Weg aufs Meer freikämpfen.»

Vallon fuhr sich durchs Haar. Er warf einen Blick auf den Ring, dann hielt er Wayland und Raul den Stein hin. Die Zukunft sah düster aus.

Eine gute Weile, bevor es dunkel wurde, kehrten die Soldaten auf das Schiff zurück und ruderten vom Ufer weg. Als die Ruder auf dem schwarzen Wasser nur noch ein dunkler Pulsschlag waren, zog die Mannschaft das Segel auf, und das Schiff steuerte nach Süden. Wayland eilte zur Insel zurück.

Dort erwartete ihn hektische Betriebsamkeit. Sie hatten die Shearwater in dem Wasserlauf aufgerichtet. Ohne Ballast lag sie eher auf dem Wasser als darin, und sie wies eine bedenkliche Schlagseite auf. Snorri und der Zimmermann richteten das Ruder ein. Sie hatten den Mast an Bord gehievt und zum Aufrichten bereit gemacht. Seine Spitze ragte schräg aus dem Laderaum heraus. Raul und einer der Männer aus den Marschen banden Maultiere an Taue, die mit dem Vordersteven verbunden waren. Die Übrigen schleppten die Ladung aufs Schiff.