«Sie sind weg!», rief Wayland.
Vallon lachte heiser auf. «Vollmond und Springflut. Heute ist die Nacht der Nächte.»
«Braucht Ihr mich hier?»
«Nein. Du hältst besser weiter Wache, damit du uns warnen kannst, falls sie kommen.»
Wayland kehrte zur Küste zurück. Langsam wurde der Himmel nachtschwarz. Es war sehr still. Die Zeit verstrich. Wayland lauschte auf das Wellengeräusch des Meeres, das wie Atemzüge klang. Er schloss die Augen, und im Traum erschien ihm seine Schwester. Als er die Augen wieder öffnete, war sie immer noch da, bleich wie der Tod, in der Dunkelheit auf der anderen Seite des Flusses.
«Syth?»
Die Erscheinung verschwand. Wayland bekreuzigte sich. Er hatte kein menschliches Wesen gesehen, sondern einen Sumpfgeist oder ein Irrlicht.
In den frühen Morgenstunden zog Nebel auf. Als es hell wurde, konnte man keinen Pfeilschuss weit über das glatte Meer sehen. Am Vormittag lichtete sich die graue Nebeldecke manchmal ein wenig, und ein schwacher Schimmer zeigte an, wo die Sonne stand. Dann wurde ein neuer Schleier herangetrieben, und alles sank in trübes Halbdunkel zurück. Der Nebel trug sämtliche Geräusche sehr weit. Wayland hörte flussauf frustrierte Rufe. Er überprüfte den Wasserstand, und in seinem Magen bildete sich ein Knoten.
Als er ein Boot nahen hörte, sprang er auf. Raul tauchte aus dem klammen Nebel auf, Bart und Haar schlammverklebt. Er grinste Wayland an.
«Weißt du eigentlich, was du für ein Glück hast? Während du dir hier in aller Ruhe einen runterholst, schuften wir uns im Matsch den Arsch ab.»
«Bekommt ihr das Schiff nicht frei?»
Raul spuckte aus. «Hatten es um Mitternacht flott, sind fünfzig Schritt flussab gerudert und auf Grund gelaufen. Haben es frei bekommen und sind dann wieder steckengeblieben. Snorri meinte, wir würden zu viel Wasser ziehen, also hat uns Vallon alle aussteigen lassen, damit wir uns in die Seile hängen und das Schiff ziehen.»
«Sind die Leute aus den Marschen weg?»
«Alle bis auf den Zimmermann und den Vogler. Und die haben sich erst beteiligt, als der Hauptmann sein Schwert gezogen hat.»
«Wie weit seid ihr gekommen?»
«Ich würde sagen, nicht mal bis zur Hälfte der Strecke.» Raul wischte sich einen Tautropfen von der Nase. «Wie sieht es mit der Flut aus?»
«Bald erreicht sie den Höchststand.»
Raul spähte in Richtung der Küste. «Bei diesem Nebel kommen sie nicht mit dem Schiff. Und bei Flut können sie auch nicht durchs Marschland. Ich schätze, wir haben noch ein bisschen Zeit.»
Flussauf stieß jemand einen langgezogenen Schrei aus.
«Das ist Vallon. Du gehst besser zurück.»
Raul stieg in sein Boot. «Wayland?»
«Was?»
Raul stieß die Faust in die Luft. «Ein Vermögen oder ein Grab!»
Wayland beobachtete, wie der Wasserpegel stieg. Ein Schwarm Meerbarben schwamm in die Flussmündung und hielt sich mit langsamen Flossenbewegungen auf der Stelle. Schwappend stieg das Wasser. Es erreichte die Flutmarke und stieg weiter. Selbst Wayland spürte, wie die Mondkräfte sein Blut anzogen.
Dann blieb die Flut stehen. Treibgut kreiselte auf dem Stillwasser.
Wayland ging auf und ab, schlug sich ungeduldig auf den Oberschenkel, versuchte, das Schiff durch reine Willenskraft heranzuziehen. «Komm endlich.»
Dann setzte die Ebbe ein. Das Treibgut wurde Richtung Meer gezogen. Schmatzend und gluckernd lief das Wasser aus den Marschen ab. Wayland atmete tief durch. Die Normannen würden inzwischen eine Postenkette um die Marschen aufgestellt haben. Die Flüchtlinge würden sich trennen müssen, um eine Chance zu haben. Wayland wusste, dass er entkommen konnte, aber danach … Enttäuschung stieg in ihm auf.
Er ging von einem Ende einer Sandbank zum anderen. Die Salzmarschen waren überflutet, unter der Wasseroberfläche schwankte das Seegras wie die Haare einer ertrunkenen Menschenmenge. Wasservögel gackelten und quakten im Nebel. Dann begann der Hund zu zittern. Wayland ging neben ihm in die Hocke und legte ihm die Hand auf den Rücken.
«Sie sind auf dem Weg», sagte er, steckte zwei Finger in den Mund und pfiff schrill.
Kaum vernehmbar und in weiter Ferne hörte er einen Schrei. Er rannte zum Fluss und spähte stromauf. Der Nebel lag so dicht über dem Wasser, dass er nicht einmal das andere Ufer erkennen konnte. Er legte die Hände um den Mund. «Ho!»
Keine Antwort. Vielleicht war das Schiff wieder auf Grund gelaufen, und sie benötigten seine Hilfe. Er tauchte ins Schilf ein und folgte dem Flussufer. Nach etwa eine Viertelmeile hörte er unregelmäßiges Aufspritzen. Das Geräusch kam näher. Ein großer Umriss schälte sich aus dem Nebel. Die Shearwater.
Vallon beugte sich vom Bug herunter. «Wie nahe sind sie?»
«Nahe.»
Das Schiff glitt stetig dahin. Raul und der Zimmermann standen auf dem Vordeck und stießen es mit Ruderriemen vom Ufer ab, damit das Schiff nicht auflief. Snorri stand am Ruder, aber die Knarr hatte zu viel Freibord, um gesteuert zu werden, und drehte sich mit Heckschwüngen immer wieder schräg zum Wasserlauf, als die Ebbe sie flussab zog. Das Beiboot, das ans Heck angeseilt war, trieb in ihrem schlingernden Kielwasser wie ein widerspenstiger Gefolgsmann.
«Du musst aufspringen», rief Raul.
Wayland hielt mit der Knarr Schritt und wartete darauf, dass sie ihm nahe genug kam. Die Seiten des Schiffs waren höher als das Ufer, und er hatte nur ein paar Schritte Anlauf. Mit einem Knurren versuchte er sein Glück, kam mit einem Fuß auf dem Dollbord auf, wäre aber rücklings hinuntergestürzt, hätte ihn nicht Raul am Gewand gepackt. Der Hund sprang ohne Hilfe auf.
«Nimm einen Riemen», befahl Vallon. «Versucht uns in der Mitte der Fahrrinne zu halten.»
Mit der Ebbe trieben sie flussab. Vallon stand im Bug und kündigte besonders riskante Stellen an. «Ja, jetzt scheint es zu klappen. Hero, Richard, sitzt nicht herum. Helft den anderen.»
Die schilfbestandenen Ufer wichen weiter zurück, je näher sie der Mündung des Flusses kamen.
«Wir haben es beinahe geschafft.»
Sie kamen an Snorris Hütte vorbei und musterten den Strand. Er war menschenleer.
Die Ebbe zog sie hinaus Richtung Meer. «An die Riemen!», rief Vallon. Er rannte zum Heck und legte die Hand hinters Ohr, um besser zu hören.
«Wo bleiben sie denn?», fragte Raul keuchend.
«Vielleicht haben sie sich im Nebel verirrt», sagte Vallon. «Das Wasser steht noch ziemlich hoch, und ein paar von den Gräben sind tief genug, dass ein Pferd darin ertrinken kann.» Er wandte sich an Snorri. «Klar zum Aufrichten des Masts.»
Snorri deutete zum Fluss zurück. «Das können wir nicht.»
«Warum?»
«Es liegt am Ballast», sagte Raul. «Ohne Ballast wird uns der Mast zum Kentern bringen.»
«Wie viel brauchen wir?»
«Bei einem Schiff dieser Größe … zehn Tonnen mindestens.»
«Können wir Sand nehmen? Von einer der Sandbänke vor der Küste?»
Snorri fing an zu jammern. An den seichten Stellen gab es mehr Schlamm als Sand. Diesen Schlick aufs Schiff zu schaffen würde bedeuten, bis zur Hüfte durchs Wasser waten zu müssen. Und bei Ebbe drohten sie erneut auf Grund zu laufen.
«Kümmern wir uns später um den Ballast», sagte Raul und musterte besorgt die Küstenlinie.
«Später ist zu spät», sagte Vallon. «Die Normannen werden übers Meer und über Land kommen. Drogo wird jedes Schiff einsetzen, das er kriegen kann.» An Snorri gewandt, fragte er: «Wie viele Schiffe kann er bekommen?»
«Mindestens ein Dutzend.»
«Habt ihr das gehört? Der Nebel wird uns nicht mehr lange Deckung bieten. Wir müssen das Schiff klar zum Segeln machen.»
Die Erkenntnis, dass trotz all ihrer Mühsal immer noch Drogo die Oberhand hatte, ließ jeden verstummen.
Vallon ging ans Heck. «Wir müssen zurück.»