Raul machte den Mund auf, um etwas zu sagen, doch dann besann er sich eines Besseren.
Sie ruderten im Stehen, kamen zwei Schritt voran und wurden einen wieder zurückgetrieben. Die Shearwater lag so hoch auf dem Wasser, dass die Riemen nicht sehr tief ins Wasser tauchten und das Ruder nicht eingesetzt werden konnte. Das Schiff pendelte wie ein Blatt in einem Wasserstrudel.
«Das Beiboot», sagte Vallon. «Wir nehmen das Schiff ins Schlepptau.»
Also kletterten sie in das Beiboot – Vallon, Wayland, Raul und der Zimmermann. Vallon hob seinen Riemen. «Wir müssen sie erst auf Kurs bringen. Auf drei … Beidrehen. Noch einmal. Sie kommt. Und jetzt gleichmäßig rudern. So ist es richtig. Haltet euch in der Fahrrinne, sonst laufen wir womöglich auf Grund. Raul, du musst dir nicht den Hals verrenken. Die Normannen werden es dich wissen lassen, wenn sie da sind.»
Wayland ruderte so angestrengt, dass seine Schultergelenke schmerzten und ihm der Schweiß über die Brust rann. Dann bogen sie in die Flussmündung ein.
«Wir haben’s gleich. Legt euch noch mal richtig ins Zeug.»
Sie landeten und zogen das Schiff auf die Sandbank. Von den Normannen war immer noch nichts zu hören oder zu sehen. «Lass deinen Hund Wache halten», befahl Vallon Wayland. Dann hasteten sie zu ihrem Ballast. Snorri hatte die Steine damals auf einer Torfbank oberhalb der Flutlinie abgeladen. Mit den Jahren hatten Gras und Schilf den Steinhaufen überwuchert. Vallon grub mit beiden Händen und förderte einen Stein so glatt wie ein Ei und größer als ein Männerkopf zutage.
«Holt Schaufeln», sagte er zu Snorri. «Hero und Richard, ihr grabt die Steine aus. Und du», sprach er an den Zimmermann gewandt weiter, «gehst an Bord und gibst die Steine an Snorri weiter. Wir anderen werden tragen.» Er klatschte in die Hände. «Los geht’s.»
Wayland hob einen Stein hoch und rannte schwerfällig los. Gleich darauf war er zurück, um den nächsten Stein zu holen. Nach der fünften Runde hörte er auf zu zählen. Alle verfielen in einen bestialisch anstrengenden Rhythmus. Hin und zurück quälten sie sich, traten eine schlammige Furche in den Torfboden, stolperten und stießen ungeschickt aneinander. Raul baute aus einem Brett und einem Sack eine Art Schlitten und zerrte fünf oder sechs Steine auf einmal zum Schiff. Als er einmal an Wayland vorbeikam, grinste er wie irrer Gnom. «Wir sind im Vorhof der Hölle gelandet, was?»
Wayland wurde langsamer. Vor ihm rutschte Vallon im Morast aus, ließ aufkeuchend seinen Stein fallen und hielt sich die Rippen. Wayland wollte zu ihm hasten, doch Vallon, das Gesicht schmerzverzerrt, schüttelte den Kopf.
Als der Steinhaufen kleiner geworden war und die Shearwater merklich tiefer im Wasser lag, erlaubte sich Wayland den Gedanken, dass sie es möglicherweise tatsächlich schaffen würden, und es wurde ihm klar, dass ein unmöglich erscheinendes Vorhaben durchgeführt werden konnte, wenn man unter der Führung eines starken Willens zusammenarbeitete.
Es musste noch mehr als eine Tonne Ballast übrig sein, als der Hund vom Strand herantrabte und sich mit zurückgezogenen Lefzen und gesträubtem Nackenfell neben ihn setzte. Alle hielten inne. Wayland setzte seine Last ab. Von der Küste drang ein schwaches Rauschen zu ihnen herüber, wie Wellen, die sich an einem fernen Strand brachen. Wieder wurde es hörbar – das Geräusch Hunderter Wildvögel, die gleichzeitig aufgeschreckt emporflogen.
«Das sind sie», sagte Vallon. «Alle an Bord.»
Noch bevor Wayland beim Schiff war, stieg ein weiterer Vogelschwarm auf, wogte über sie hinweg und verbreitete ohrenbetäubendes Geschrei. Ein paar der Vögel gingen an seichten Wasserstellen in ihrer Nähe nieder.
«Hauptmann!», rief Raul.
Wayland sah den Vogler und den Zimmermann ins Schilf verschwinden. Snorri wollte ihnen nach. «Lasst sie», befahl Vallon.
Sie stakten sich hastig vom Ufer der Sandbank weg.
«Weiter, wir sind noch nicht außer Gefahr.»
Aber sie hatten keine Kraft mehr, legten die Riemen weg, und brachen stöhnend auf den Planken zusammen.
Raul hielt den Atem an. «Da kommen sie.»
Über sein hämmerndes Herz hinweg hörte Wayland das Geräusch von Reitern, die sich durch aufspritzendes Wasser kämpfen.
Vallon packte den Achtersteven. «Herr im Himmel! Da ist jemand am Strand. Sieht nach einem Mädchen aus.»
Wayland kam an Deck. Dort stand Syth am Wasser, die Hände wie zum Gebet gefaltet.
Vallon fuhr herum. «Rudert, verdammt.»
Wie ein Schlafwandler ging Wayland auf Vallon zu.
Vallon hob die Hand. «Geh zurück auf deinen Platz.»
Wayland aber sprang aufs Dollbord und ließ sich ins Wasser fallen. Die Kälte raubte ihm den Atem. Er strampelte und ging unter. Dann berührten seine Füße den Grund, und stehend ragte sein Kopf gerade eben aus dem Wasser. Da tauchte der Hund neben ihm auf. Wayland packte ihn am Nackenfell und bewegte sich halb schwimmend, halb watend aufs Ufer zu. Syth hatte sich nicht vom Fleck gerührt.
«Komm zu mir.»
Syth machte ein paar ängstliche Schritte. «Ich kann nicht schwimmen.»
Als Wayland schwankend ans Ufer stieg, sprengten die ersten Reiter aus dem Nebel wie Krieger aus der Unterwelt. Sie ritten einzeln und zu zweit in einem losen Verband, Männer und Pferde waren von oben bis unten mit Schlamm bespritzt. Eines der Pferde trat in einen Graben oder ein Loch und überschlug sich in einem hoch aufschießenden Wasserwirbel.
Wayland zauderte. Die ersten Soldaten galoppierten schon über die Sandbank, und er wusste, dass ihm nicht genügend Zeit blieb, um zusammen mit Syth das Schilf der Marschen zu erreichen.
«Wayland!»
Raul stand am Heck des Schiffs und ließ ein Tau über seinem Kopf kreisen. Vallon stand neben ihm und winkte aufgeregt. Da packte Wayland Syth und zog sie ins Meer.
Der Grund fiel sanft ab, und er war erst bis zur Hüfte im Wasser, als er lautes Aufspritzen hörte. Als er sich umdrehte, sah er, dass ihn vier oder fünf Reiter verfolgten. Er stapfte weiter, keuchend vor Anstrengung, und die Soldaten kamen näher. Er zog sein Messer und wollte sich gerade zum Kampf umdrehen, als der Grund unter seinen Füßen plötzlich steil abfiel und er versank.
Hustend kam er wieder hoch, sah einen Reiter mit einer Lanze auf ihn zielen und strampelte weiter ins tiefere Wasser. Sein Messer hatte er losgelassen, aber Syth hielt er immer noch fest gepackt. Er führte ihre Hand zum Halsband des Hundes. «Halt dich fest.»
Die Reiter hatten begriffen, dass Wayland in einen Priel gefallen war. Sie wichen nach rechts aus, tasteten sich an seinem Verlauf entlang, und sie waren schneller als Wayland. Schritt für Schritt holte der erste Reiter zu ihm auf, sein Pferd bis zur Brust im Wasser. Er hatte sein Schwert gezogen, wechselte nun damit in die linke Hand, verlagerte sein Gewicht auf den linken Steigbügel, und beugte sich, mit dem Schwert ausholend, vom Pferd. Er wirkte riesenhaft. Ohne festen Halt konnte Wayland nichts tun, um dem Hieb auszuweichen, und er wusste, dass er sterben würde. Alles schien sich zu verlangsamen. Der Soldat hatte sein Schwert erhoben und beugte sich vor, um genau zu treffen. Er blieb unglaublich lange in dieser Haltung, und dann beugte er sich sogar noch weiter vor, ließ sein Schwert fallen und stürzte vor Wayland ins Wasser. Gurgelnd kam er wieder an die Oberfläche, Blutblasen stiegen aus seinem Mund. Gleich darauf zog ihn das Gewicht seiner Rüstung in die Tiefe, und er war verschwunden. Sein Pferd hatte den Kontakt mit dem Boden verloren und schlug wild aus. Seine Panik sprang auf die anderen Pferde über. Eines von ihnen bäumte sich auf, drehte sich um sich selbst, und warf seinen Reiter ab.
Wayland sah sich nach Syth um. Sie klammerte sich immer noch an das Halsband des Hundes. Er schwamm ihnen hastig nach und hängte sich an den Schwanz des Tiers. Knurrend wandte der Hund den Kopf, man sah das Weiße in seinen Augen. Die Belastung war zu hoch für ihn.