«Weiter!»
Wayland versuchte dem Hund nachzuschwimmen, doch er bekam einen Krampf in den Beinen und begann unterzugehen. Das Wasser leckte schon an seinen Augen, und das Schiff ragte unerreichbar weit entfernt vor ihm auf.
«Wayland!»
Vallon warf ihm ein Seil zu. Wayland sah nicht, wo es aufs Wasser klatschte. Raul legte mit seiner Armbrust an, und da wurde Wayland klar, was den Soldaten getötet hatte.
«Wayland!»
Vallon hatte das Seil eingeholt und wirbelte es erneut über seinem Kopf. Wayland wusste, dass dies seine letzte Chance war, und er sah das Seil schlangengleich vom Schiff zucken und vor sich auf die Wasseroberfläche klatschen. Mit letzter Kraft schwamm er darauf zu, bekam es zu fassen, und schlang es sich ums Handgelenk. Vallon begann zu ziehen.
«Wartet!»
Das Seil wurde schlaff. Wayland rief den Hund. Das Tier drehte um und paddelte auf ihn zu, Syth hinter sich herschleppend. Wayland packte mit einer Hand das Hundehalsband und mit der anderen Syth. Ihre Augen waren geschlossen. Das Seil schnitt in sein Handgelenk, als Vallon es einzuholen begann. Nachdem sie ein Stück durch graues Wasser gezogen worden waren, stieg mit einem Mal der Schiffsrumpf wie eine dunkle Mauer vor ihm aus dem Wasser.
Raul zerrte ihn hoch und übers Dollbord. Wayland kam auf allen vieren auf und würgte, bis er das Gefühl hatte, sein Innerstes nach außen gekehrt zu haben. Raul rieb ihn ununterbrochen fluchend mit einem Stück Segeltuch ab.
«Syth», murmelte Wayland und richtete sich halb auf. Sie lag mit dem Gesicht nach unten ein paar Schritte neben ihm, und Hero saß rittlings auf ihr und versuchte das Wasser aus ihren Lungen zu pumpen. Benommen sah sich Wayland um. Er griff nach dem Dollbord und zog sich hoch.
«Bleib unten!», schrie Raul. «Sie können immer noch mit der Armbrust auf uns schießen.»
«Wo ist der Hund?»
«Wir haben ihn nicht zu fassen gekriegt.»
Der Hund paddelte achteraus im Wasser, blieb schon zurück. Bald wäre er nicht mehr zu retten. Stöhnend zog sich Wayland Handbreit für Handbreit am Dollbord entlang. Er lehnte sich aus dem Schiff, bekam den Hund aber nicht zu fassen.
Raul zerrte ihn zurück. «Das hat keinen Sinn. Wir müssen ihn zurücklassen.»
Wayland schob ihn weg. «Wo ist das Seil? Gib mir ein Seil.»
«Du verrückter Bastard!», schrie Raul. Er drückte Wayland mit beiden Armen auf die Planken. «Hauptmann, ich brauche Hilfe. Er will wieder vom Schiff springen.»
Vallon fluchte und hastete geduckt zu ihnen. «Hast du uns nicht schon genügend in Gefahr gebracht? Ich riskiere unser Leben nicht für einen Hund.» Wütend deutete er ans Ufer. «Sieh dir das an.»
Wayland sah eine Reihe Soldaten, die sich an der Wasserlinie auf ein Knie hinuntergelassen hatten und das Schiff mit ihren Armbrüsten beschossen. «Lasst mich los», sagte er heiser. «Ich gebe den Hund nicht auf.»
Raul packte ihn noch fester, dann ließ er ihn plötzlich los und schlug mit der Faust aufs Deck. «Verflucht!» Er sah Vallon an. «Ich mach’s. Haltet das Seil ordentlich fest, ich schwimme nämlich noch schlechter als Wayland.»
Er stieg übers Heck und sprang. Als er wieder auftauchte, war sein Gesicht so verzerrt, als sei er kurz vorm Ertrinken. Er strampelte wie ein verstümmelter Frosch. Wayland rief den Hund und bedeutete ihm, auf Raul zuzuschwimmen. Raul kam spritzend bei dem Tier an und schob nach einigen Fehlversuchen das Seil unter seinem Halsband hindurch. Vallon und Wayland zogen sie neben das Schiff und hievten Raul an Bord. Erst zu dritt gelang es ihnen schließlich, auch den Hund auf das Schiff zu zerren. Er trat um sich und bockte, bis er endlich halb erstickt an Deck war. Dort stand er mit gespreizten Beinen und hängendem Kopf, wie ein sterbendes Kalb, und dann erbrach er Meerwasser. Danach starrte er sein Erbrochenes an, schüttelte sich, schwankte mit unsicheren Schritten zu Wayland, leckte ihm kurz übers Gesicht und brach zusammen.
Wayland drückte Raul den Arm. «Das werde ich dir nie vergessen.»
Raul gab, immer noch um Atem ringend, zurück: «Und ich dir ganz bestimmt auch nicht!»
Wayland kroch zu Syth hinüber. Hero und Richard hatten wärmende Decken über sie gelegt und rieben ihr die Glieder.
«Ist sie tot?»
Hero sah ihn entsetzt an. «Nein. Ich glaube, es geht ihr bald wieder gut, wenn wir sie warm halten können.»
Wayland zog ihr die Decke vom Gesicht. Es war bläulich verfärbt und wächsern, und dieser Anblick rief alte Schrecken in ihm wach. Er schüttelte sie. «Syth, stirb nicht.»
Ihre Lider flatterten, ihre Lippen bewegten sich.
«Ich hole noch mehr Decken», sagte Hero.
Wayland drängte seinen kalten Körper an ihren. Er zitterte unkontrollierbar. Der Hund kroch neben sie. Wayland sah Armbrustbolzen in den Schiffsplanken stecken, und gleichzeitig nahm er die Schaukelbewegung des Schiffs auf den niedrigen Wellen wahr. Und dann war da noch eine Stimme in seinem Kopf, die nicht weggehen wollte – eine vertraute Stimme, die etwas rief, das nach Flüchen und Verwünschungen klang.
Er hob den Kopf. Niemand auf dem Schiff rührte sich, und abgesehen von der Stimme in seinem Kopf lag über allem unheilvolles Schweigen. Vallon stand im Bug und sah aufs Meer hinaus. Hero hatte sich wie eine schlaffe Puppe auf den Bauch geworfen. Auf Richards Gesicht lag ein fassungsloser Ausdruck. Da begegnete Raul Waylands Blick, und er spuckte kräftig aus.
Wayland griff nach dem Dollbord, und beim zweiten Versuch gelang es ihm, sich daran hochzuziehen. Die Normannen bewegten sich wie Schatten auf dem immer weiter in die Ferne rückenden Ufer. Wayland schüttelte den Kopf und bohrte sich den Finger ins Ohr.
Es war Drogos körperlose Stimme, die nicht verschwinden wollte.
«Ihr fahrt allesamt zur Hölle. Euer Anführer heißt nicht Vallon. Sein Name ist Guy de Crion. Er hat seine eigene Frau umgebracht und den Neffen des Herzogs von Aquitanien ermordet. Hört ihr mich? Ihr fahrt allesamt zur Hölle!»
Nordwärts
XV
Die Shearwater trieb im Nebel auf der Gezeitenströmung. Jemand schrie herum. Es war Snorri. Er tobte im Laderaum, stampfte mit den Füßen und schüttelte seine Faust. «Gott», stöhnte Vallon. Er ging ins Heck und stolperte, als das Schiff in der Dünung rollte.
«Was zum Teufel ist los mit dir?»
«Dieses Mädchen, Hauptmann. Es muss vom Schiff.»
«Beruhige dich. Wir setzen sie bei der ersten Gelegenheit an Land.»
«Nein, nein. Sie ist verhext. Wir kommen nicht von der Stelle, solange sie an Bord ist.»
Vallon spähte durch den Laderaum. Das Mädchen saß in eine Decke gewickelt zwischen Wayland und dem Hund. Es musste schon ein sehr tapferer Mann sein, der es wagte, sich zwischen sie zu drängen.
«Was erwartest du denn von mir? Soll ich sie über Bord werfen?»
Snorri packte Vallon am Ärmel. «Sie kann auf meinem Stechkahn zurückpaddeln.»
«Den Normannen in die Arme? Bist du wahnsinnig?»
«Hauptmann, ich schwör’s. Wir sind dem Tod geweiht, wenn wir sie nicht loswerden.»
«Wir sind dem Tod geweiht, wenn du dieses Schiff nicht in Fahrt bringst.» Mit großer Anstrengung gelang es Vallon, einen versöhnlichen Ton anzuschlagen. «Du bist der Herr über die Segel. Wir verlassen uns auf dich.» Er drückte Snorri die Schulter und setzte leise hinzu: «Keine Sorge. Ich kümmere mich um das Mädchen.»
Snorri sah ihn mit leiser Hoffnung an. «Versprochen? Das ist ein durchtriebenes Weibsbild.»
Vallon drehte sich um. «Wayland, an Deck.»
Wayland stieg herauf und ging Richtung Heck. Vallon hielt ihn auf. «Ihr anderen, hier herüber. Wir setzen Segel.»
Raul sah lustlos auf. «Wir haben keinen Wind.»
«Das weiß ich, du Schwachkopf. Aber wir müssen bereit sein, wenn welcher aufkommt.»