Raul hievte sich auf die Füße. Hero und Richard rappelten sich hoch wie verletzte Insekten.
«Ihr glaubt, ihr hättet kein bisschen Kraft mehr», sagte Vallon zu ihnen. «Aber ich garantiere euch, dass ihr eure Schwäche augenblicklich vergesst, wenn uns die Normannen angreifen.» Er trat einen Schritt zurück. «Meister Snorri, setz den Mast.»
Snorri kicherte schrill. «Dazu haben wir nicht genügend Leute.»
«Was? Wie viele brauchst du denn?»
«Sechs, um ihn hochzuziehen, vier, um ihn aufrecht zu halten, und zwei, um ihn ins Kielschwein runterzulassen. Hab noch nie gesehen, dass es mit weniger als acht Männern gemacht wurde, und das war in einem Hafen, wo die Leute vom Ufer aus noch mit Seilen geholfen haben.»
Vallon starrte den Mast an – einen Kiefernstamm von vierzig Fuß Länge und dick wie ein Männerbauch. Sie hatten ein Dutzend Männer gebraucht, um ihn an Bord zu hieven und sein unteres Ende in den Laderaum zu senken. Und nun mussten sie ihn mit halb so vielen Leuten um siebzig Grad aufrichten – und zu diesen Leuten gehörten ein Einarmiger und zwei Jünglinge, die so schwach waren wie Novizen nach einer Fastenwoche.
«Raul hat Kraft für drei. Irgendwie bekommen wir ihn schon hoch.»
«Hauptmann, wenn er umfällt, zerschmettert er mein Schiff, und was machen wir dann?»
Hero trat vor. «Wir könnten den Mast zentriert halten, indem wir zwei Holzschienen längs im Laderaum verzurren.» Er deutete auf die Rah und die Ersatzrah an der Backbordseite. «Die sehen lang genug aus.»
«Wenigstens einer, der hier seinen Grips einsetzt.» Vallon wandte sich an die Übrigen. «Also, worauf wartet ihr?»
Raul drehte seine Kappe in den Händen. «Hauptmann, im Ernst, keiner von uns hat seit gestern irgendetwas gegessen.»
«Gut. Zieht euch etwas Trockenes an und nehmt euch etwas zu essen.»
Vallon war nach der ganzen Schinderei genauso am Ende wie die anderen. Schwer ließ er sich auf eine Ruderbank sinken und tastete seine Seite ab, wo er sich die Muskeln gezerrt hatte. Seine Handflächen waren mit Blasen und kleinen Schnitten übersät, seine Finger geschwollen, und die Fingerspitzen so weiß wie die eines Toten. Als er die feuchten Kniehosen von den Beinen schüttelte, stellte er fest, dass die Innenseiten seiner Oberschenkel bis aufs Blut aufgescheuert waren. Nachdem er sich mit Schwamm und viel sauberem Wasser gewaschen und frische Kleidung angezogen hatte, fühlte er sich ein wenig besser.
«Herr, hier, nehmt das», sagte Richard und bot ihm Brot, Hammelfleisch und einen Becher Ale an.
Er aß nur ein paar Bissen, bevor seine Unruhe wieder Oberhand gewann. «Drogo muss jetzt schon auf halbem Weg nach Lynn sein. Gehen wir an die Arbeit.»
«Das da ist das Kielschwein», sagte Snorri und deutete auf einen sarggroßen Eichenblock, der über die vier mittleren Querspanten im Laderaum griff. «Die Höhlung in der Mitte nimmt den Mastfuß auf. Der Holzblock darüber, der heißt bei uns Mastfisch. Er umschließt den Mast von vorn und an den Seiten. Das senkt die Spannung im Mast, wenn gesegelt wird. Schlag einen Keil in die Kerbe hinten, und dieser Mast sitzt felsenfest.»
«Verstanden?», fragte Vallon in die Runde.
Zuerst zogen sie den Mast einen Fingerbreit nach dem anderen nach vorn, um seinen Fuß genau über der Kerbe am Kielschwein zu platzieren. Schon diese Aufgabe, die nur ganz langsam ausgeführt werden konnte, zeigte Vallon, mit welchem Gewicht und welchen Kräften sie es zu tun hatten. Snorri bereitete den Mastfisch vor und fettete die Öffnung ein, damit der Mastfuß leichter hineinglitt. «Ich brauche hier unten einen Mann, der den Fuß ins Loch lenkt.»
Vallon sah sich um. «Wayland, das ist deine Aufgabe.»
Raul versetzte dem Falkner einen Schubs. «Ich hab mal gesehen, wie ein Mann bei dieser Sache seine Griffel verloren hat.»
«Verdammt, halt doch dein Maul.»
Snorri legte eine Silbermünze in den Sockel.
«Wozu soll das gut sein?», fragte Wayland.
«Damit zahl ich den Fährmann in die Anderwelt, falls ich ersaufe.»
Raul warf Vallon einen kurzen Blick zu und schnippte ebenfalls eine Münze in den Sockel.
Parallel zum Mast verzurrten sie die Rahe an jedem Ende des Lagerraums an Ruderbänken. Auf Heros Vorschlag hin befestigten sie zwischen ihnen noch ein Querholz, damit der Mast nicht zu weit nach vorn rutschen konnte.
Snorri wickelte einhändig das Ankerseil auf. «Brauch jemand, der sich mit Knoten auskennt, der muss das Seil hier an die Mastspitze binden.»
Raul zog sich an dem schrägliegenden Mast hinauf und befestigte das Seil etwa fünf Fuß unterhalb der Spitze. «Sicher, dass das hält?», rief Snorri.
«Kannst dich ja dran aufknüpfen, dann werden wir’s schon sehen.»
Snorri ging übers Deck und ließ dabei das Seil ablaufen. «Jetzt takeln wir die Falle.»
Das war ein kräftiger, fünfzehn Fuß langer Pfosten mit gegabelter Spitze. Snorri zog das freie Ende des Seils durch die Gabelung, dann richteten Wayland und Raul den Pfahl gemeinsam auf und stellten ihn in einen Sockel vorn im Laderaum. Das Seil verlief nun oben vom Mast zu der Gabelung im Pfosten und von dort aus bis zum Vordeck, auf dem alle bereitstanden. Snorri bezog neben ihnen Aufstellung und gab die Befehle. «Das Seil straffziehen.»
Vallon zog gemeinsam mit den anderen.
«Fester. Es hängt durch.»
Vallon zog, bis er den Gegenzug des Mastkörpers spürte.
«Alle zusammen jetzt – ziehen!»
Vallon stemmte sich auf den Fersen zurück. Das Hanfseil spannte sich surrend, doch der Mast rührte sich nicht.
Snorri, der halb in die Hocke gegangen war, trieb sie an. «Zieht schon. Oder seid ihr zu blöd dazu? Lang und gleichmäßig. Hängt euch rein. Was soll denn das sein? Das hab ich ja schon Säuglinge besser machen sehen. Zieht um euer Leben, verdammt. Brecht euch das Kreuz. Lasst eure Lungen platzen!»
Dieses Mal bekamen sie den Mast ein paar Fingerbreit hoch, doch er war zu schwer und sackte gleich wieder ab.
Schwer atmend standen sie da und schüttelten ihre Hände aus.
«Wir brauchen mehr Hebelkraft», keuchte Vallon. Sein Blick fiel auf einen der Riemen. Er ging darauf zu.
«Zerbrecht mir bloß nicht die Riemen», schrie Snorri. «Im Laderaum sind Balken.»
Vallon fand einen acht Fuß langen Eichenbalken, stellte sich hinter den Mast und hob den Balken wie eine Harpune. Erneut nahmen die anderen das Seil und zogen. Der Mast hob sich ein paar Fingerbreit – und das genügte Vallon, um den Balken in die Lücke zu schieben. Er griff möglichst weit nach oben und hängte sich mit seinem ganzen Gewicht an den Hebel. Seine Halsschlagader trat hervor. An seiner Nase hing ein Schleimfaden.
«Er kommt», schrie Snorri.
Mit einem empörten Knarren bewegte sich der Balken ein paar Grad Richtung Senkrechte. Der Balken glitt weg, und Vallon stolperte, doch als er in die Höhe sah, schwebte der Mast noch. «Festhalten», rief er atemlos und schwankte zu den anderen zurück.
Der Hebel hatte den entscheidenden Unterschied gemacht. Langsam schwang die Mastspitze nach oben, mit jeder gewonnenen Handbreit wurde es leichter, ihn weiterzuziehen. Snorri gab ihnen Anweisungen. «Noch ein bisschen weiter. Bloß noch ne Winzigkeit. Brrr!»
Kurz bevor er in der Senkrechten war, schien der Mast beinahe gewichtslos. Snorri nahm ihnen das freie Ende des Seils ab und wand es um den Vordersteven. «Und jetzt passen wir den Fuß ein.»
Nachdem Raul und Wayland eine Zeitlang geschoben und gehebelt hatten, schien der Mast seinen Weg in das Kielschwein beinahe von selbst zu finden und sank mit einem dumpfen Dröhnen in den Sockel.
Snorri und Raul verzurrten den Mastfisch um die Basis. Als sie den Keil eingeschlagen hatten, richtete Snorri sich auf, begutachtete den Mast von allen Seiten und blickte dann Vallon an. «Gar nich ma schlecht.»
Die Mannschaft sank stöhnend auf die Decksplanken.
«Herumsitzen können wir später», sagte Vallon. «Wir müssen noch auftakeln.»