Doch nur Snorri und Raul wussten, wie das überhaupt zu bewerkstelligen war. Nachdem er geholfen hatte, die Rah hochzuziehen, sah er zu, wie die Wanten und Stage befestigt wurden. Dann ging Vallon zum Bug, um den Gezeitenstand zu überprüfen. Noch immer hielt sie der Nebel umfangen. Tau tropfte wie Regen vom Takelwerk. Die Kleidung, die er trocken angezogen hatte, sog sich schon wieder mit Feuchtigkeit voll.
Er spürte, dass ihm jemand nachkam. Hero bot ihm mit gesenktem Blick einen Becher Ale an. Vallon leerte ihn und wischte sich mit dem Handrücken über den Mund. «Was meinst du, wie viel Uhr es ist?»
«Ich kann es nicht mehr einschätzen. Ich weiß nicht einmal, in welche Richtung das Schiff fährt. Gott sei Dank ist Drogo genauso blind wie wir.»
«Da bin ich nicht so sicher. Hör mal das Geschrei, das die Vögel draußen auf See machen. Ich vermute, dass der Nebel nur an der Küste liegt und die Normannen da draußen abwarten, bis wir die Nase rausstrecken. Wir sind schließlich immer noch im Mündungsgebiet des Flusses, nicht auf dem offenen Meer.»
«Dann müssen wir beten, dass sich der Nebel bis zum Dunkelwerden hält.»
Mit einem Mal überkam Vallon eine Erinnerung. «Haben Tiere einen Verstand?»
Hero blinzelte bei dieser merkwürdigen Frage überrascht. «Aristoteles geht davon aus, dass der Mensch das einzige vernunftbegabte Tier ist. Warum?»
Vallon starrte in den Nebel. «Ich habe einmal das Quartier mit einer Ratte geteilt, die beinahe menschliche Schläue gezeigt hat. Jeden Abend, nachdem ich gegessen hatte, ist die Ratte erschienen, um die Krümel zu fressen. Sie kam immer um die gleiche Zeit, aus demselben Loch und durchquerte den Raum auf demselben Weg. Um sich zu verstecken, hat sie auf dem Rücken einen Stofffetzen mit sich herumgezogen. Würdest du nicht sagen, das zeigt, dass sie denken konnte?»
Hero ließ sich die Frage durch den Kopf gehen. «Weil die Ratte Euch nicht sehen konnte, ist sie davon ausgegangen, dass auch Ihr sie nicht sehen konntet. Genau genommen ist ihre Schläue eigentlich Dummheit, denn Ihr hättet sie jederzeit töten können.» Er verlagerte sein Gewicht auf den Füßen. «Herr, das Quartier, von dem Ihr da sprecht – war es das Gefängnis, das Ihr erwähnt habt?»
Vallon nickte. «Ich erzähle dir ein anderes Mal davon.»
Snorri stieß einen Ruf aus. Vallon drehte sich um und rieb sich über die Wange. Die leichte Brise war beinahe sofort wieder erstorben, trotzdem spürte Vallon sie noch im Gesicht. «War das ein günstiger Wind?»
«Ja, aus Südwest.»
«Sind wir bereit zum Segeln?»
Snorri sah Raul finster an. «Is noch ein Haufen zu tun, aber wir werns schon schaukeln.»
Alle warteten und hoben gelegentlich mit prüfender Miene das Gesicht. Vallon öffnete und schloss die Fäuste. Dann bemerkte er, dass ihn Raul beobachtete, und er zwang sich zur Bewegungslosigkeit.
Dann strich die nächste Brise übers Meer. Das Segel blähte sich einmal träge und sackte wieder zusammen.
«Ich wünschte, es wäre schon dunkel», sagte Hero.
«Psst!»
Wayland hastete an Backbord nach vorn.
Vallon schlich so leise wie möglich zu ihm hinüber und beugte sich über die Reling. Er konnte nichts anderes als das ferne Möwengeschrei hören, aber er zweifelte nicht daran, dass Waylands Warnung ernst zu nehmen war. Der Junge hatte Ohren wie ein Luchs. Schließlich vernahm auch Vallon das schwache, rhythmische Geräusch von Rudern im Wasser. In einem Moment wurde der Klang so deutlich herangetragen, dass er sogar Stimmen hören konnte, im nächsten Moment war er wieder verschwunden.
Er sah über die Schulter zurück. Raul spannte seine Armbrust. Vallon beugte sich zu Wayland. «Wo sind sie?», flüsterte er.
Wayland deutete hin.
Vallon spähte angestrengt in die Richtung, die Wayland angezeigt hatte. Er hörte das Klatschen eines missglückten Ruderschlags und sah weißliche Gischt aufspritzen. Und dann glitt keine hundert Schritt entfernt die verwischte Silhouette eines Schiffs durch den Nebel. Es fuhr mit eingerolltem Segel aufs Land zu, die Männer waren über die Riemen gebeugt. Sie kamen so dicht vorbei, dass für einige Augenblicke jeder von ihnen die Shearwater mit einem Blick nach rechts entdeckt hätte. Doch keiner sah herüber, und einen Moment später war das Schiff wie eine Geistererscheinung verschwunden.
«Hol deinen Bogen», sagte Vallon zu Wayland. «Vermutlich sind sie mit mehreren Schiffen unterwegs.»
«Es kommt Wind auf», sagte Raul und sah achteraus.
Die Shearwater tauchte mit dem Bug in ein Wellental. Das Segel füllte sich, und der Mast knarrte. Wayland spannte eine Bogensehne ein. Die alte war in der Feuchtigkeit schlaff geworden. Die Shearwater nahm etwas Fahrt auf und zog eine gurgelnde Kielwasserspur hinter sich her. Die Nebelschwaden zogen wie träge Regenschleier vorbei. Von Zeit zu Zeit tauchte eine Lücke in dem Dunst auf, und Vallons Blicke flogen in Erwartung weiterer Normannenschiffe übers Wasser. Dann lichtete sich vor ihnen der Nebel und wurde zu einem rosigen Schein. Die schrägen Strahlen der Abendsonne warfen den Schatten der Shearwater auf die Nebelwand, und mit einem Mal, als wäre eine Tür aufgestoßen worden, waren sie unter freiem Himmel.
Die Sonne ging gerade unter, und das Meer glühte wie flüssiges Feuer zwischen den schwarz glänzenden Wattablagerungen.
«Verflucht!»
Im Fahrwasser genau vor ihnen, keine Viertelmeile entfernt, lag ein Fischerboot sanft schaukelnd auf den leichten Wellen. Bis an die Dollborde drängten sich darauf bewaffnete Normannen. Ein paar der Soldaten stürzten an die Riemen. Andere zogen das Segel auf. Einer von ihnen entdeckte die Shearwater und begann aufgeregt herumzuschreien.
«Da kommen noch mehr aus Richtung Lynn!», rief Wayland.
Vallon sah die Segel weit im Süden. «Die könnt ihr fürs Erste vergessen.»
Ihre Lage schien hoffnungslos. Die Normannen lagen direkt in Windrichtung und blockierten die Mitte der Fahrrinne, während sich zu beiden Seiten die Schlickbänke des Watts ausbreiteten. Es war kein Platz, ihnen auszuweichen. Selbst wenn sie leewärts hätten fahren können, die Normannen waren an den Rudern schneller, als die Shearwater bei dem schwachen Wind segelte. Mit Schrittgeschwindigkeit hielten sie auf das Fischerboot zu. Bald wären sie in Reichweite der Bogenschützen. Vallon legte die Hände um den Mund. «Snorri, Kurs halten. Hast du mich verstanden? Kurs geradeaus.»
Raul sog die Luft zwischen den Zähnen ein. «Hauptmann, die sind uns fünf zu eins überlegen.»
«Ich weiß. Dreißig Männer in einem Boot, das halb so groß ist wie unser Schiff. Sieh dir an, wie sie sich gegenseitig behindern. Und sie werden nicht mehr viel Kraft haben, nachdem sie von Lynn hierhergerudert sind.»
Die Soldaten stolperten übereinander, während sie sich hastig auf den Angriff vorbereiteten. Ihre Bewegungen brachten das Boot so heftig zum Schwanken, dass sie zu kentern drohten. Ein paar Männer auf den Ruderbänken fuchtelten mit ihren Riemen wild in der Luft herum. Andere kämpften sich in ihre Kettenhemden. Das Boot schaukelte steuerlos im Wasser.
«Sie werden sich für uns fein gemacht haben, bis wir dort sind», sagte Raul.
Vallon beschattete sich die Augen mit der Hand. «Ich sehe keine Bogenschützen.»
«Nein, das sind Landtruppen. Mit Schwertern und Lanzen.»
Die Shearwater krängte, weil der Bug herumschwang.
«Was zum …!» Vallon rannte nach achtern. «Ich habe gesagt, du sollst Kurs halten.»
«Ich kann um die herum fahren!», schrie Snorri, der sich gegen das Ruder stemmte.
«Sie haben uns eingeholt, bevor wir eine Achtelmeile geschafft haben.» Vallon entwand ihm das Ruder. «Wir müssen sie rammen.»
«Ich zerstöre nicht mein eigenes Schiff!»
«Es ist doppelt so groß wie diese Nussschale. Wir brechen sie einfach in der Mitte durch.»