Raul warf einen Seitenblick auf Wayland. «Hauptmann …»
«Raul», sagte Vallon ganz leise. «Hol das Mädchen.»
Ohne Wayland noch einmal anzusehen, ging Raul auf Syth zu. Noch bevor er drei Schritte getan hatte, war der Hund auf den Beinen, und ein lautes Knurren ließ seinen Körper erbeben. Raul blieb stehen. «Das riskiere ich nicht, Hauptmann. Nur Wayland kann sich zu dem Hund wagen, wenn das Vieh in dieser Stimmung ist.»
Vallon murmelte eine Obszönität, zog sein Schwert, und ging über das Deck. Der Hund machte einen Satz nach vorn. Speichelfäden hingen von seinen Lefzen herab.
«Nicht!», rief Wayland.
Vallon blickte sich zu ihm um, das Gesicht rot vor Zorn. «Hol das Mädchen, oder ich tue es.»
«Das ist nicht gut. Ich kann sie nicht verlassen. Ich wollte es, aber ich kann es nicht.»
«Gott im Himmel. Wenn du dir wirklich etwas aus ihr machen würdest, müsstest du der Erste sein, der sie an Land bringen will.»
«Ich weiß. Ich kann es nicht erklären.»
Schwer atmend ging Vallon auf ihn zu. «Also sind wir wieder dort, wo wir angefangen haben. Wenn das Mädchen geht, gehst du auch.»
«Ich will nicht gehen.»
Vallons Atmung normalisierte sich wieder, und der Zorn wich aus seiner Miene. Er warf einen Blick zu den verblassenden Sternen hinauf und steckte sein Schwert in die Scheide. «Es wird bald hell. Ihr holt jetzt besser die Leute.»
Wayland trat einen Schritt auf ihn zu. «Heißt das …»
«Geht!»
Snorri hastete auf Vallon zu. «Aber Ihr habt’s versprochen!»
Der Hauptmann schob ihn zur Seite. Raul packte Wayland am Ärmel.
Sie sprangen ins Beiboot. Als Raul die Leine losmachte, landete der Hund ebenfalls im Boot. Sie begannen ans Ufer zu rudern. Als er sich umdrehte, sah Wayland am Bug Syth. Sie schickte ihm ein überwältigendes Lächeln und ein begeistertes kleines Winken hinterher.
Knirschend lief ihr Boot auf den Kiesstrand, und sie zogen es über die Flutlinie aus getrocknetem Seetang. Nach drei Tagen auf See war Waylands Gang beunruhigend schwankend. Sie konnten gerade noch den Umriss der Knarr erkennen. Er befahl dem Hund, auf das Boot aufzupassen, und sie machten sich auf den Weg Richtung Inland. Graues Licht lag über den Wiesen. Ihre Schritte hinterließen schwarze Abdrücke im Tau. Bis sie die Dorfgrenze erreicht hatten, zwitscherten überall in den Hecken die Vögel.
Ein beschaulicher Fluss begrenzte die Felder. Das Dorf lag versteckt hinter einer Ulmenreihe. Nistende Saatkrähen veranstalteten einen unglaublichen Aufruhr in den Bäumen. Wayland setzte sich mit dem Rücken an eine Weide. Raul schnitt Stücke von einem Brotlaib und hielt Wayland eines hin.
Er schüttelte den Kopf.
Raul sah ihn unentwegt an.
«Du kannst dir die Mühe sparen», sagte Wayland. «Alles, was du mir an den Kopf werfen könntest, habe ich schon von Vallon gehört.»
Raul begann zu kauen. «Ich kenne dich, seit dich Walter aus dem Wald gezerrt hat, und ich habe dich noch nie irgendetwas Rührseliges tun sehen, bis dieses Mädchen aufgetaucht ist. Du hast ja nicht mal einen einzigen Blick auf die Dienstmädchen geworfen. Und jetzt sieh dich an. Isst nichts mehr. Schläfst nicht mehr. Du bist rettungslos verliebt, mein Freund.»
Wayland musterte die Bäume. Ein Hahn krähte. «Ich fühle mich schrecklich.»
«Da gibt’s nur ein Gegenmittel. Werd sie los, bevor es zu spät ist. Du kommst schnell drüber weg. Sie ist ziemlich hübsch, das stimmt, aber es gibt immer ein anderes Mädchen in der nächsten Stadt. Und ein so schöner Junge wie du muss für sein Vergnügen bestimmt nicht mal bezahlen.»
Wayland zupfte ein Grasbüschel aus der Wiese.
«Es ist ja nicht so, dass sie verhungern müsste.»
«Ich weiß. Ich hatte den Entschluss ja auch gefasst, aber als es so weit war, hat mir der Mut gefehlt.»
Raul hörte auf zu kauen und schien Wayland in einem ganz neuen Licht zu betrachten. «Sie hat dich verhext.»
Wayland war bereit, alles zu glauben. «Meinst du wirklich?»
«Ich weiß es. Nur eine Hexe kann dich dazu gebracht haben, im Angesicht einer Normannenarmee ins Meer zu springen. Und über den Hund hat sie auch einen Zauber verhängt. Sieh dir doch bloß an, wie er ihr folgt, als wäre er ein unschuldiges Lämmchen. Und ihre Augen – sehr eigenartig.»
Wayland warf das Grasbüschel weg. Hinter ihnen war die Sonne aufgegangen. Am Himmel wurde eine zarte Wolkenbank sichtbar. Der schläfrige Ruf eines Kuckucks tönte von einem Dickicht herüber.
Raul lehnte sich zurück und faltete die Hände über dem Bauch. «Ich kenne einen Mann, der sich in eine Hexe verliebt hat. Sie war das Schönste, was er je gesehen hatte. Blond wie deine Syth, aber mit ein bisschen mehr Fleisch auf den Rippen. Jedenfalls hat dieses hinreißende Wesen den Mann mit in ihr Bett genommen und ihm jede Wonne zuteilwerden lassen, die er sich nur wünschen konnte. Schließlich hatte er sein Vergnügen gehabt und legte sich mit seiner Liebsten in den Armen im Bett zurück. Und weißt du, was dann passiert ist?»
«Was?»
Raul setzte sich auf. «Dann ist vor seinen Augen ihr Gesicht von ihrem Schädel gerutscht und das Fleisch von ihren Rippen abgefallen. Statt eine Schönheit umarmte er plötzlich eine Leiche, in der Würmer und Maden herumwimmelten.»
Wayland starrte ihn entsetzt an.
Raul wischte sich ein paar Krümel vom Mund. «Da vorne kommt einer.»
Wayland löste seinen Blick von Raul. Ein blasser, zerlumpter Junge trödelte in ihre Richtung und sah sich dabei so staunend um, als wäre die ganze Welt eine Wunderkammer. Dann betrat er ein schmales Roggenfeld und klatschte in die Hände. Darauf flogen ein paar Ammern in die nächste Hecke. Nachdem er noch mehrere Male halbherzig in die Hände geklatscht hatte, spähte der Junge verstohlen um sich, bevor er den Grenzstein am Feld seiner Familie anhob und ein Stück weiter wieder ablegte. Dann ging er zu der Hecke und begann daran entlangzugehen, immer auf der Suche nach Vogelnestern.
Raul stand ungeduldig auf. «Wo bleiben denn die übrigen Faulpelze?»
Eine Glocke begann zu läuten.
Raul schlug sich aufs Knie. «Was sind wir bloß für Tölpel! Heute ist Sonntag. Da sind alle in der Kirche.» Er kicherte boshaft in sich hinein. «Umso besser.»
Sie gingen einen Weg entlang, der von Gurtbogenhäusern gesäumt wurde. Vor den Häusern lagen Gemüsegärten, dahinter Viehkoppeln. Milchkühe sahen sie mit ihren verträumten Blicken an, üppige Büschel Frühlingsgras hingen aus ihren Mäulern. Die Baumblüte hatte begonnen und die Apfelbäume und Quitten weiß und rosa überhaucht. Kinder, die Wasser oder Futter holten, flohen kreischend vor den unbekannten Gesellen, hielten erst in sicherer Entfernung an und beobachteten sie zwischen ihren Fingern hindurch. Dann folgten sie ihnen in einiger Entfernung, und die kühneren Jungen drückten die Brust heraus und schwangen die Glieder, um Rauls Gang nachzuahmen. Bis Wayland und Raul bei der Kirche waren, hatten sie eine ansehnliche Gefolgschaft hinter sich versammelt.
Hinter ein paar dunklen Eiben sah Wayland ein gemauertes Kirchenschiff und einen quadratischen Turm mit Bogengängen und Spitzfenstern. Auf dem Friedhof grasten Schafe. Sie lehnten ihre Waffen außen neben die schwere Eichentür.
«Findest du nicht, wir sollten abwarten, bis die Messe vorbei ist?», fragte Wayland.
«Überlass das mir. Denk dran, dass wir es mit armen Schluckern zu tun haben, die noch nie weiter als bis zum nächsten Dorfmarkt gekommen sind. Es bringt nichts, ihre Rübenköpfe mit irgendwelchem Gerede über Island oder Griechenland durcheinanderzubringen.»
Dann zog sich Raul die Mütze vom Kopf und betrat die Kirche. Wayland duckte sich hinter ihm hinein und bekreuzigte sich. Die Sonne strahlte durch die Fenster und beschien die Gemeindeversammlung rechts und links des Mittelgangs. Einige der Leute lehnten an Säulen, andere standen aufrecht, und die meisten saßen auf dem mit Binsenstroh bestreuten Boden. Viele schienen zu schlafen. Zwei Bauern, die ganz hinten in der Kirche saßen, stießen ihre Nachbarn an, um sie auf Raul und Wayland aufmerksam zu machen. Die Warnung breitete sich aus, bis die ganze Gemeinde aufgestanden war und sie anstarrte. Raul legte einen Finger auf die Lippen. Nur der Priester am Altar hatte ihre Anwesenheit nicht bemerkt. Mit geschlossenen Augen und zurückgelegtem Kopf fuhr er damit fort, kaum hörbar die Messgebete zu murmeln. Waylands Blick hob sich zu der Gewölbedecke, die in tiefen Schatten lag. Dann betrachtete er das Wandgemälde vom Jüngsten Gericht, das Christus auf seinem Thron zeigte, die Gerechten mit Engelsflügeln zu seiner Rechten, die Sünder nackt und verängstigt zu seiner Linken, und unter ihnen die Verdammten, die ins ewige Höllenfeuer geworfen wurden. Er dachte an seine Familie in ihren namenlosen Gräbern.