«Bring ihn her.»
Raul eskortierte Garrick zur Kirchentür. Hunger und die Plackerei auf den Feldern hatten sich in seine Züge eingegraben, doch in seinen tiefliegenden grauen Augen lag ein sarkastisches Funkeln. Aus irgendeinem Grund erwärmte sich Wayland für ihn.
«Bist du krank?»
«Wenn Hunger eine Krankheit ist, dann bin ich todkrank.»
Wayland lächelte. «Zeig mir deine Hände.»
Garrick streckte ihm seine schwieligen Schaufelhände entgegen.
«Wir haben eine sehr schwierige Reise vor uns.»
«Hier zu überleben ist noch schwerer. Den letzten Rest von meiner Ernte habe ich schon vor der Fastenzeit gegessen.»
«Er schafft es», sagte Wayland. «Such noch einen, und dann verschwinden wir.»
Raul starrte wütend ins Kirchenschiff. «Dieses Pack könnte ja nicht mal der Erzengel Gabriel durch die Himmelspforte locken. Ich schnappe mir einfach einen, der mir passt.»
«Ich will nicht, dass jemand von seiner Familie getrennt wird», sagte Wayland.
«Du hast gehört, was Vallon gesagt hat. Schnappt sie euch, hat er gesagt. Wir können nicht ewig verhandeln, bis sich diese Bauerntölpel endlich zu einem Entschluss durchringen.»
Da begannen die Jungen draußen auf dem Kirchhof zu rufen und aufgeregt herumzuspringen. Sie deuteten auf einen Reiter und zwei Männer zu Fuß, die eilig über die Felder heranhasteten.
Wayland ging ein paar Schritte den Weg hinunter. «Wer ist das?», fragte er Garrick.
«Daegmund der Büttel und seine Schläger Aiken und Brant. Sie sind der Fluch und der Stachelstock, die unser Leben bestimmen.»
Wayland beschattete seine Augen mit der Hand. Der Büttel trieb sein Maultier rücksichtslos über die bepflanzten Felder der Bauern. Er wurde auf dem Sattel durchgerüttelt, und seine Topfschnitt-Frisur hüpfte auf und ab. Zwei Fußsoldaten in schäbigen Lederharnischen trotteten hinter ihm her.
«Wir warten besser nicht, bis sie hier sind», sagte Garrick.
Wayland nahm seinen Bogen und griff nach einem Pfeil. «Werden sie uns angreifen?»
«Daegmund bestimmt nicht. Das ganze Ausmaß seiner Tapferkeit stellt er unter Beweis, wenn er mindestens einmal am Tag einem Dieb den Holzkragen umlegt. Für die groben Sachen setzt er seine Schläger ein.»
«Sind sie von hier?»
«Nein. Daegmund traut den Männern vom Lehnsgut nicht. Er hat zu viele krumme Geschäfte zu verbergen. Er hat diese Kerle in Grimsby angeheuert.»
Die Gottesdienstbesucher waren aus der Kirche gekommen. Vor dem Friedhof hielt der Büttel sein Maultier an. Er war dicklich und schwitzte und wirkte nicht gerade tapfer, wenn er auch ein Schwert führte und zwei Männer befehligte. Nun kamen keuchend auch seine Wachen an, postierten sich rechts und links von ihm, kratzten Lehmklumpen von ihren Schuhen und versuchten zu überspielen, wie sehr sie außer Atem waren. Sie trugen alte, schartige, einschneidige Sachsenschwerter. Aus ihren gesteppten Leder-Gambesons war schon ein Gutteil der Wattierung herausgefallen. Daegmund fuhr sich mit der Hand über die Augen.
«Was sind das für Spione? Was hat das zu bedeuten? Das ist verbotenes Eindringen in die Ländereien meines Herrn. Bewaffnete, die Ärger machen. Unruhestifter, die den Frieden des Königs stören. Meldet an, was ihr hier zu tun habt.»
Raul sagte zurückhaltend: «Wir suchen Männer für eine Handelsexpedition.»
Der Büttel riss die Augen auf. «Diese Fronarbeiter sind im Besitz meines Herrn. Jeder Mann hier samt seinem Hab und Gut darf nur nach dem Willen meines Herrn leben und muss sich seinen Anordnungen beugen.»
«Sie werden ihm nicht fehlen.»
Der Büttel fuchtelte mit dem Schwert in Richtung seiner Getreuen. «Nehmt diese Kerle fest. Fesselt sie. Jeder Mann, der euch hilft, bekommt einen Monat lang seine Arbeitswoche erlassen.»
Raul drückte mit der Zunge von innen gegen die Wange. «Was für ein großzügiger Mensch, nicht wahr?»
Der Bailiff deutete mit vor Zorn bebendem Zeigefinger auf ihn. «Ich habe schon längst Alarm geschlagen. Die Soldaten sind unterwegs. Ihr werdet hängen.»
«Wenn sie uns kriegen, werden sie Schlimmeres mit uns machen als uns zu hängen.»
Einer der Wachen klopfte dem Büttel aufs Knie. Daegmund beugte sich zu ihm hinunter und legte die Hand hinters Ohr. Nachdem er gehört hatte, was die Wache zu sagen hatte, fuhr er mit einem Ruck auf. Sein Gesicht war so rot wie ein Hahnenkamm.
«Diese Männer sind Verbrecher und Mörder. Sie gehören zu einer Bande, die aus Norwich geflohen ist, nachdem sie die Wachmannschaft abgeschlachtet haben. So groß ist ihre Verruchtheit.»
«Es stimmt», rief Raul und brachte damit alle zum Schweigen. «Ich habe nach den ersten zwanzig aufgehört zu zählen, wie viele Normannen wir umgebracht haben.»
Der Blick des Büttels flackerte über die Versammlung. «Ich setze zehn Schilling auf ihren Kopf aus. Für jeden von ihnen.»
Raul ging einen Schritt auf ihn zu. «Du bist ein elendes Lügenmaul. Die Belohnung war vor zwei Wochen schon höher als ein Pfund, und das war, bevor wir ein Normannenschiff versenkt hatten. Inzwischen müssen wir mindestens das Doppelte wert sein.»
«Einen Anteil der Belohnung für jeden Mann, der hilft, sie festzunehmen.» Daegmund versetzte einer seiner Wachen einen Tritt. «Vorwärts. Ergreift sie.»
Als Brant und Aiken auf den Friedhof vorrückten, richtete Raul seine Armbrust auf den Büttel. «Lass sie nur weitergehen. Dann bist du der Erste, der stirbt.»
Daegmund winkte seine Männer so heftig zurück, als würde er mit bloßen Händen ein Feuer ausschlagen. Wayland musterte die beiden Wachmänner. Beide waren mittelgroß, hatten gerötete Gesichter und einen Körperbau, der an Brauereipferde erinnerte.
«Wie wär’s, wenn wir diese beiden mitnehmen?»
Raul schniefte. «Könnten’s schlimmer treffen, schätze ich.»
Wayland versuchte sich darüber klar zu werden, welche Stimmung unter den Bauern herrschte. Es war nie klug, Bauern zu unterschätzen. Dann begann er, auf den Büttel und seine Wachen zuzugehen.
«Hilfe!», kreischte der Büttel und zerrte sein Maultier herum.
Einer der Wachmänner riss sein Schwert hoch. Wayland blieb stehen.
«Welcher von euch ist Brant?»
«Sag’s ihm nicht», kam es von dem auf der rechten Seite.
Wayland lächelte den auf der linken Seite an. «Also bist du Brant.»
Brant nickte. Er wirkte ein wenig schlicht.
«Wir sind auf einer Handelreise nach Norden unterwegs. Wir suchen nach Männern, die für einen guten Lohn hart arbeiten wollen. Du und dein Gefährte – ihr seht aus, als könntet ihr die Richtigen sein.»
«Was redet er da?», rief der Büttel aus sicherer Entfernung.
«Wie viel zahlt euch dieser Fettsack?»
«Antworte nicht», sagte Aiken. «Du bringst uns bloß in Schwierigkeiten.»
«Ihr seid schon in Schwierigkeiten.»
«Vier Schilling an jedem Zahltag», sagte Brant. «Und auf den Lohn vom letzten Vierteljahr warten wir noch.»
«Schließt euch uns an, und wir zahlen euch das Doppelte und noch dazu einen Anteil am Gewinn. Zeig es ihnen, Raul.»
Beim Anblick der Silbermünzen fuhr sich Brant mit der Zunge an den Zähnen entlang und warf einen Blick auf seinen Gefährten.
«Reden kostet nichts», erklärte ihm Aiken. «Wenn sie dich erst einmal auf ihrem Schiff haben, zählen ihre großartigen Versprechungen auf einmal nichts mehr. Sie lassen dich wie einen Ochsen schuften und behandeln dich noch dazu wie einen Hund.»
«Und was glaubst du, wie dich dein Herr behandeln wird, wenn wir mit Garrick verschwinden?», fragte Wayland.
Der Büttel war wieder näher herangeritten. «Gebt nicht nach. Tut eure Arbeit, und ich vergesse alle Pflichtverletzungen, die ihr heute begangen habt.»
Wayland hob das Kinn in die Richtung des Büttels. «Wem glaubt ihr? Ihm oder mir?»