Zwei Tage später war Brant tot und erfüllte damit Aikens Prophezeiung sogar vor der Zeit.
Er hatte Glück gehabt, dass er nicht schon am Tag zuvor nördlich des Tyne getötet worden war. Die Sonne war hinterm Horizont versunken und hatte die Küstenlinie als purpurroten Umriss hervortreten lassen. Hero und die anderen Schüler saßen im Halbkreis um Wayland auf dem Vorderdeck und lernten Nordisch. Syth war im Laderaum und kochte das Abendessen. Ein bedrohliches Knurren von unten zerstörte die friedliche Stimmung. Wayland sprang auf und rannte ins Heck, die anderen eilten ihm nach. Dort stand Brant mit dem Rücken zur Wand in einer Ecke und schwenkte in dem lächerlichen Versuch, den Hund zu vertreiben, einen Schöpfeimer vor sich hin und her. Wayland musste dem Tier einen Befehl gegeben haben, denn es drehte ab und sprang mit langen Sätzen auf das vordere Halbdeck. Erst da sah Hero Syth, die bei der Kohlenpfanne kauerte.
Vallon hielt Wayland am Arm fest, als er in den Laderaum hinunterspringen wollte. Er flüsterte ihm etwas ins Ohr und hielt ihn so fest gepackt, dass beide Männer schwankten. Was er auch gesagt haben mochte, es genügte, um Wayland übers Deck weggehen zu lassen, wobei er mörderische Blicke über die Schulter zurückwarf.
Vallon tat so, als sei er erstaunt, den Rest der Mannschaft beim Zuschauen zu erwischen. «Habt ihr nichts Besseres zu tun?»
Als Vallon in den Laderaum stieg, frohlockte Snorri. «Ich hab ja gesagt, dass dieses Weibsbild für Ärger sorgt.»
Wenig später kehrte Vallon zum Unterricht zurück. Er benahm sich, als sei nicht das Geringste vorgefallen.
«Wo waren wir stehengeblieben?»
Am nächsten Tag drohte sie ein regnerischer Ostwind an die Küste zu treiben. Nur durch unausgesetztes Rudern gelang es ihnen, Abstand zum Ufer zu halten. Auf der Seeseite brandete das Wasser mit weißer aufschäumender Gischt an Inselchen und Riffe. Eine gewaltige Ruine dominierte die Küste im Westen.
«Das ist Bamburgh», sagte Richard. «Einst war es die Festung der northumbrischen Könige. Mein Vater hat mir gesagt, dass die Normannen sie wieder aufbauen wollen.»
«Hat jemand gesehen, ob die Festung bemannt ist?», fragte Vallon.
Heros Augen waren zu stark vom Salzwasser verklebt, um klar sehen zu können.
«Da ist ein Gerüst auf einem der Wälle», sagte Wayland.
«Also, falls dort irgendwer ist, haben sie uns gesehen. Weiterrudern.»
Auch mit sechs Mann an den Riemen mussten sie schwer ums Vorwärtskommen kämpfen. Sie hatten die Festung kurz nach der Mittagszeit zum ersten Mal gesehen, und sie war am späten Nachmittag immer noch hinter ihnen in Sicht.
Plötzlich rief Rauclass="underline" «Schiff auf Steuerbord!»
Ein Fischerboot mit vier Mann Besatzung tauchte aus dem Nieselregen auf und kreuzte achtern den Kurs der Shearwater beinahe in Rufweite. Vallon und ein paar andere hoben die Hand. Die Mannschaft des anderen Schiffs starrte in ihre Richtung, und keiner der Männer rührte auch nur einen Finger zum Gruß.
«Das gefällt mir nicht», sagte Raul.
Der Wind blähte die Segel des Fischerbootes, es glitt schnell aufs Land zu und verschwand in der Mündung einer Lagune. Die Shearwater kroch weiter. Direkt vor ihnen formte sich ein unbestimmter dunkler Streifen langsam zu einer niedrigen Landzunge, die eine Meile weit in die See ragte.
«Dort kommen wir nicht rum», sagte Raul.
Vallon tauchte den Riemen ein. «Nicht lockerlassen. Wir versuchen vor dem Dunkelwerden in den Windschatten zu kommen.»
Sie kämpften sich weiter und wurden immer langsamer, je näher sie der Landzunge kamen.
«Wir haben uns in einem Brandungsrückstrom verfangen», rief Raul. «Er schiebt uns zurück.»
Vallon fand keine Lösung für das Problem. Unterhalb der Klippen, beinahe an der Spitze der Landzunge, war das Meer glatt wie ein Zinnteller. Weiter zum Festland hin ritten Schaumkronen auf den Wellenkämmen. Er deutete auf die Landzunge. «Möglicherweise ist es auch eine Insel.»
«Das macht keinen Unterschied», rief Raul. «Bei dieser Flut kommen wir nicht hin.»
Vallon knurrte verärgert. «Anker setzen. Wir warten auf den Gezeitenwechsel.»
Der Anker glitt über den sandigen Meeresboden und verfing sich dann an irgendetwas. Die Shearwater lag vor einem langgestreckten, einsamen Strand, hinter dem sich hohe Dünen türmten. Vallon gab Befehle aus. «Raul, Brant, ihr rudert Wayland ans Ufer.» Dann drehte er sich zu dem Falkner um. «Du läufst am Strand entlang und stellst fest, wie es da vorne weitergeht.»
«Können wir auch an Land gehen?», fragte Hero. Nach vier Tagen auf See sehnte er sich nach festem Boden unter den Füßen.
Vallon warf einen Blick zurück auf die Einbuchtung, in der das Fischerboot verschwunden war. «Wir sind hier nicht sicher. Ihr haltet auf den Dünen Wache. Und ihr rührt euch keinen Schritt weiter weg.»
Hero betrat einen Strand, von dem das Wasser alle menschlichen Spuren getilgt hatte, mit Ausnahme der verwitterten Rippen eines halb im Sand begrabenen Schiffswracks. Zusammen mit Richard kletterte er auf eine steile Düne. Oben auf dem Plateau wuchs Strandhafer. Eine Miniaturwüste zog sich landeinwärts. Einige Dünen schienen parallel zur vorherrschenden Windrichtung zu stehen, andere lagen so ungeordnet wie die kabbeligen Wellen, durch die sie manchmal fuhren. Als er aufs Meer zurückblickte, sah Hero, wie die ankernde Knarr der Strömung trotzte. Wayland und sein Hund waren winzige Umrisse, die den Strand entlangrannten. Die Sonne wirkte hinter dem wolkenverhangenen Himmel wie eine weißliche Hautblase. Hero lief ein Schauer über den Rücken.
Er war am Rand der Erschöpfung. Sie alle waren es. Ihnen war nie richtig warm, ihre Kleidung war nie richtig trocken, und sie schliefen in keiner Nacht durch. Sie hatten alle frischen Lebensmittel gegessen und lebten nun von altbackenem Brot, Salzheringen und Brei. Sogar das Trinkwasser war so knapp geworden, dass Vallon eine Rationierung angeordnet hatte. Hero hatte festgestellt, dass Kratzer und kleine Schnitte in der Haut langsamer heilten als gewöhnlich.
Neben ihm erklang ein Seufzer Richards wie ein Echo auf seinen Trübsinn.
«Man darf den Mut nicht verlieren», sagte Hero. «Bald sind wir in schottischen Gewässern.»
«So viel Zeit und so viel Anstrengung, und trotzdem sind wir wieder dort, wo wir angefangen haben. Wenn ich ein gutes Pferd hätte, könnte ich morgen bei Tagesanbruch zu Hause sein.» Richards Mund zuckte. «Stell dir mal vor, was mich für ein Empfang erwarten würde.»
Hero wurde noch klarer, wie viel Richard geopfert hatte. «Tut es dir jetzt leid, dass du mit uns gekommen bist?»
Richard sah vor sich hin. «Nein. Weißt du, ich hätte die Geringschätzung meines Vaters ertragen können und auch die Schläge von Drogo, wenn Margaret mir nur ein bisschen Zuneigung gezeigt hätte. Aber auch die anspruchsloseste Pflanze vertrocknet in ausgedörrter Erde.» Er malte ein Muster in den Sand. «Das Einzige, was ich bedaure, ist das Blut, das vergossen worden ist. Ich hätte nie geglaubt, dass Drogo seine Wut mit dieser Gewalttätigkeit auslebt.» Mit einer schnellen Bewegung löschte er das Muster aus.
«An deinen Händen klebt kein Blut.»
«So wird es meine Familie aber nicht sehen. Ich werde niemals nach England zurückkehren können. Vielleicht kann ich ja mit dir nach Italien gehen. Ich habe darüber nachgedacht, ob ich in einen Orden eintreten soll. Glaubst du, sie würden mich nehmen?»
Hero lächelte. «Ich bin sicher, dass man dich in jedem Kloster mit offenen Armen aufnehmen würde.»
«Wenn ich mich im Schreiben übe, lassen sie mich vielleicht im Scriptorium arbeiten.»
«Den ganzen Tag zu schreiben kann eine arge Schinderei sein. Bald sieht man nicht mehr gut und hat einen krummen Rücken.»
«Aber denk nur, wie viel ich lernen würde.»