«Richard, wenn wir diese Reise überstehen, hast du mehr gelernt als jeder Schriftgelehrte.»
«He! Seid ihr zwei taub?»
Raul stand am Strand. Er hatte die Hände in die Seiten gestemmt. Wayland rannte über den Strand auf das Boot zu. Die Ebbe hatte eingesetzt, und die Shearwater zerrte nicht mehr so stark an ihrem Anker.
Raul kam keuchend die Düne herauf. «Vallon will, dass wir wieder an Bord kommen.» Er erreichte das Plateau und ließ seinen Blick umherwandern. «Wo ist Brant?»
Hero runzelte die Stirn. «Woher soll ich das wissen?»
«Ich dachte, er ist bei euch.»
«Wir haben ihn nicht mehr gesehen, seit wir an Land gegangen sind.»
Raul schlug sich an die Stirn. «Verdammt!»
«Wahrscheinlich hat er sich nur irgendwo aufs Ohr gelegt», sagte Hero. «Sollen wir uns nach ihm umsehen?»
Wütend blickte Raul um sich. «Aber macht schnell. Wenn er nicht aufgetaucht ist, bis Wayland da ist, gehen wir ohne ihn.»
Hero und Richard kletterten über die Dünen, stolperten die steilen, windzugewandten Hänge hinauf und auf der anderen Seite wieder hinunter. Jedes Mal, wenn Hero einen Dünengipfel erreicht hatte, rief er Brants Namen, und seine Stimme hallte merkwürdig gedämpft über den Sand.
«Sieh mal», sagte Richard und deutete auf einen Haufen Knochen in der nächsten Senke.
Hero stieß mit dem Fuß einen menschlichen Schädel an. Das kreideweiße Kranium war eingeschlagen worden. Nach der Anzahl der Knochen zu urteilen, die an dieser Stelle verstreut lagen, hatte dort ein Massaker stattgefunden. «Die Knochen sehen sehr alt aus», sagte er. «Ich frage mich, ob die Toten von dem Schiff stammen, dessen Wrack wir am Strand gesehen haben.»
Richard warf einen Blick über die Schulter. «Wir sollten besser zurückgehen.»
«Lass uns noch auf die nächste Düne steigen.»
Als sie oben waren, ließen sie ihren Blick über die menschenleere Gegend schweifen. Grashalme zitterten im Wind. Der Sand lief um ihre Füße zusammen. Möwen schwebten überall am Himmel. Ihre blaugrünen Umrisse wurden vom Wind zurückgetrieben, und ihre klagenden Rufe hallten übers Land.
«Wir vergeuden nur unsere Zeit», sagte Hero. «Brant ist desertiert.»
«Warte. Ich glaube, ich habe eine Stimme gehört.»
«Das waren nur die Möwen.»
«Nein. Hör doch.»
Hero hob lauschend den Kopf. «Das bildest du dir ein.»
«Da ist es wieder. Hör genau hin.»
«Da ist nichts. Lass uns gehen.»
Doch als sich Hero in den Wind drehte, glaubte er, in einiger Entfernung links von sich eine Bewegung gesehen zu haben. Dann sah er die Bewegung noch einmal und nahm an, es sei ein Tier, das einen Dünenabhang herunterkrabbelte. Doch dann blieb das Wesen stehen, und Hero erkannte Brant. Es waren zunächst nur sein Kopf und seine rudernden Arme zu sehen, dann hatte er sich die nächste Düne emporgearbeitet und warf einen verzweifelten Blick zurück, bevor er sich in die nächste Senke warf. Hero wusste, dass er um sein Leben lief, doch waren seine Bewegungen seltsam schleppend. Als Brant wieder auftauchte, war er nahe genug, dass man ihm das Entsetzen vom Gesicht ablesen konnte. Er musste sie bemerkt haben, denn er schien verzweifelt den Kopf zu schütteln, bevor er ins nächste Dünental abtauchte.
Er war immer noch außer Sicht, als die Schlachtrösser aus dem Sandmeer hinter ihm emporstiegen, die Schädel wie Hämmer auf- und niederschwingend, die Hufe furchenschlagend auf dem Dünenkamm.
«Lauf!»
Mit kreisenden Armen rasten sie den Dünenhang hinunter. Die normannischen Reiter schwärmten auseinander, gaben sich Handzeichen, und die Hufe ihrer Pferde wirbelten durch das Gewirr der Dünen.
Als er den nächsten Hang hinunterrutschte, zerriss Richard seinen Schuh und stürmte mit halb herunterhängender Schuhsohle weiter. Sie erreichten eine weitere Dünenkuppe und riskierten einen Blick zurück. Ein merkwürdiger Zufall wollte es, dass gerade in diesem Moment sämtliche Normannen in den Senken verborgen waren. Dann plötzlich, wie Marionetten, die an ihren Fäden heraufgezogen werden, tauchten sie wieder auf, peitschten ihre Pferde, lehnten sich in den Sätteln zurück, um den nächsten Galopp den Dünenhang hinunter auszugleichen. Richards Atem kam in pfeifenden Stößen, und Hero war so am Ende, dass er den letzten Hang auf allen vieren hinaufkroch.
Raul und Wayland warteten am Boot. Hero stieß einen atemlosen Ruf aus, und die beiden sahen auf, im ersten Augenblick ohne großes Interesse, doch dann setzten sie sich sofort in Bewegung. Hero sprang einfach hinunter, stolperte beim Aufkommen und rollte sich überschlagend zum Strand hinunter. Vor ihm drehte sich alles, als er zu Wayland aufsah und keuchte: «Normannen. Machen Jagd auf Brant.»
Wayland zerrte sie über den Strand. Raul schob das Boot ins Wasser. Zusammen halfen sie ihnen ins Boot. Sie schnappten sich die Riemen. Als sich Hero umdrehte, sah er Brant auf den letzten Dünenkamm taumeln. Er schlug sich die Hände vors Gesicht, als er erkannte, dass sich das Boot vom Strand entfernte. Ein Speer flog an ihm vorbei, und Brant ließ sich von der Dünenkuppe fallen.
«Wir können ihn nicht einfach zurücklassen», schrie Hero.
«Er ist derjenige, der sich unerlaubt entfernt hat», sagte Raul, ohne den Rudertakt zu ändern.
Brant überschlug sich die Düne hinunter. Als er wieder auf die Beine kam, schien er verwirrt und hinkte zuerst ein Stück den Strand entlang, bevor er sich in Richtung des Bootes umdrehte. In seinem rechten Oberschenkel steckte ein Pfeil, und er zog das Bein nach. Er war halb über den Strand, als die ersten Normannen auf die Dünenkuppe ritten. Sie sahen, dass er nicht entkommen konnte, und hielten an, um auf den Rest ihrer Truppe zu warten. Mehr als zwanzig Reiter hatten sich auf der Kuppe versammelt, bis Brant das Wasser erreicht hatte. Dort stand er mit ausgebreiteten Armen und stieß in verzweifelter Erbitterung einen grauenvollen Schrei aus.
Einige Normannen stiegen aus den Sätteln, ließen die Pferde auf der Düne, und kamen zu Fuß zum Strand herunter. Andere führten ihre Tiere seitwärts über den Hang, während die kühneren Reiter ihren Pferden die Sporen gaben, bis sie schließlich auf den Hinterbacken die Düne herabrutschten. Ein Soldat spannte seinen Bogen und zielte auf Brant, aber ein Offizier brachte ihn mit einem Ruf dazu, den Bogen zu senken.
Raul nahm seine Armbrust. «Hört auf zu rudern!»
«Er ist ein toter Mann», sagte Wayland. «Du verschwendest deinen Bolzen.»
Raul schlug ihm mit dem Handrücken auf die Brust. «Hört auf zu rudern.»
Er kniete sich ins Boot und stützte sich mit einem Ellbogen auf der Ruderbank ab, um genauer zielen zu können.
Brant drehte sich nach seinen Verfolgern um und hob die Hände in einer so demütigen Geste, dass Hero vor Mitleid ächzte.
«Keiner gibt einen Laut von sich», befahl Raul.
Das Boot schaukelte auf und ab. Raul murmelte etwas und erstarrte in höchster Konzentration. Hero vernahm so etwas wie ein leises Explosionsgeräusch, als die aufgestaute Kraft der Armbrustsehne den Bolzen davonjagen ließ. Brant bog sich mit flatternden Armen hintenüber, torkelte ein paar Schritte seitwärts, und brach im seichten Wasser zusammen.
Raul ergriff wieder seinen Riemen. «Ich musste ihn töten. Er hätte ihnen unseren Kurs und unser Reiseziel verraten.»
Zwei Soldaten hasteten über den Strand, um den Körper aus dem Wasser zu ziehen. Die übrigen sammelten sich um ihren Anführer. Hero sah ihn Befehle erteilen. Die Truppe teilte sich. Ein halbes Dutzend Männer ritt wieder auf die Düne, die anderen galoppierten den Strand hinauf.
«Was haben sie vor?»
«Ich weiß nicht», sagte Raul, «aber sie haben die Verfolgung noch nicht aufgegeben.»
An Bord der Shearwater berichtete Wayland, dass die vermeintliche Landzunge eine Insel war, die eine flache Bucht voller Sandbänke und Untiefen vom Festland trennte.