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«Gibt es eine Durchfahrt?»

«Auf der anderen Seite ist eine enge Fahrrinne.»

«Dahin sind vermutlich die Reiter unterwegs», sagte Raul.

«Irgendwelche Schiffe in der Bucht?»

Wayland schüttelte den Kopf.

«Und was ist mit der Insel? Ist sie bewohnt?»

«Ich habe nur Ruinen gesehen.»

Vallon musterte die Dünen. Gegen das glühende Abendrot hoben sich die normannischen Soldaten als bedrohliche schwarze Silhouetten ab. Von der Abteilung, die über den Strand Richtung Norden geritten war, fehlte jede Spur. Die Gezeitenströmung war schwächer geworden, und der Wind hatte sich gelegt. «Wir sehen uns diese Bucht mal an», sagte Vallon.

Sie ruderten parallel zum Strand, die normannischen Reiter auf den Dünen hielten mit ihnen Schritt. Die Flüchtenden erreichten die Landspitze am Ende des Strandes. Die Bucht lag zum Teil als feuchter Schlick trocken und war in anderen Bereichen von Dutzenden Wasserläufen durchzogen, die in der zunehmenden Dunkelheit schimmerten. «Wenn wir hier durchfahren, laufen wir auf Grund», sagte Vallon. Er musterte die Insel und deutete auf ihre felsige Südspitze in kaum einer Meile Entfernung. «Wir ziehen uns in den Schutz der Klippen zurück.»

Es war vollständig dunkel, bevor sie im Windschatten der Insel angekommen waren. Vorsichtig fuhren sie weiter, und als sie das Geräusch von Wellen hörten, die saugend über Felsen liefen, warfen sie Anker. Hero versuchte in der Dunkelheit irgendetwas zu erkennen. Seehunde stöhnten auf ihren wasserumspülten Schlafplätzen, die Brandung donnerte an die Klippen der Landspitze.

«Soll ich an Land gehen und mich umsehen?», fragte Wayland Vallon.

«Warte damit lieber noch ein bisschen.»

In genau diesem Moment tauchte hoch über ihnen ein Licht auf.

«Die Normannen müssen über die Bucht auf die Insel gekommen sein», murmelte Raul.

«Die würden bestimmt keine Laterne schwenken. Keiner gibt einen Laut von sich.»

Hero beobachtete das Licht der Laterne, das in der schwarzen Nacht auf und nieder tanzte. Schließlich erreichte das Licht die Meereshöhe und verharrte. Dann erklang eine Stimme.

«Hat das jemand verstanden?»

«Hat englisch geklungen», sagte Wayland. «Englisch und noch eine Sprache.»

«Wir dürfen nicht antworten», zischte Raul. «Das können Strandräuber sein.»

Die Stimme rief erneut etwas, und die Laterne schwang herum wie ein Weihrauchfass.

«Er spricht Latein», sagte Hero. «Pace vobiscum. Friede sei mit euch. Venite in ripam. Nolite timere. Kommt an Land. Habt keine Angst.»

Raul spuckte aus. «Das machen wir ganz bestimmt nicht. Strandräuber versuchen mit allen möglichen Tricks, Seeleute in ihre Fänge zu bekommen.»

Vallon schnaubte. «Und wie viele Strandräuber kennst du, die Latein sprechen? Vielleicht ist ein Kloster auf der Insel. Hero, frag ihn, wer er ist.»

Hero legte die Hände um den Mund. «Quis es tu?»

Ein Lachen drang aus der Dunkelheit. «Bruder Cuthbert, erimetes sum

«Er sagt, er ist ein Einsiedlermönch.»

«Frag ihn, ob Normannen auf der Insel sind.»

Hero wandte sich an Wayland. «Du fragst. Ich glaube, Englisch ist seine Muttersprache.»

Wayland rief die Frage, und aus der Nacht kam die Antwort zurück. «Er sagt, es ist kein einziger Normanne da. Die Insel ist seit vielen Jahren verlassen. Er ist der Einzige, der noch hier lebt.»

Vallon tippte sich mit dem Zeigefinger an die Lippen. «Hero, du gehst mit Raul an Land und befragst den Mönch. Findet heraus, ob die Normannen auf die Insel kommen könnten. Und versucht, so viel wie möglich über diesen Küstenabschnitt zu erfahren.»

«Kann ich mitkommen?», fragte Richard.

«Ich denke schon. Aber bleibt nicht die ganze Nacht. Sagt dem Eremiten, er soll die Lampe ausblasen. Die Normannen könnten sie vom Festland aus sehen.»

Raul ruderte auf das Licht zu. Hero machte sich im Bug bereit und sprang auf einen Felsen, der mit glitschigem Seegras bewachsen war.

«Salvete amici», rief der Einsiedler. «Seid ihr Mönche? Haben euch meine Brüder geschickt?»

Er hatte sich die Kapuze seiner Mönchskutte über den Kopf gezogen, und sein Gesicht lag im Schatten des Lampenscheins.

«Macht das Licht aus», knurrte Raul.

«Aber die Nacht ist dunkel, und ihr kennt den Weg nicht.»

Mit einer schnellen Bewegung nahm ihm Raul die Lampe weg und erstickte die Flamme. «Ich folge Euch überhaupt nirgendwohin. Was ist das hier für ein Ort?»

Der Einsiedler lachte röchelnd. «Ihr müsst von weit her kommen. Das hier ist die heilige Insel Lindisfarne, der Ort, an dem das Christentum nach England gekommen ist.»

«Sie ist verlassen, habt Ihr gesagt.»

Ein weiteres hustendes Lachen. «Niemand hat auf Lindisfarne gelebt, seit die Wikinger vor zweihundert Jahren das Kloster zerstört haben.»

«Kann man über die Bucht segeln?»

«Nicht bei Ebbe, und auch nicht, wenn es dunkel ist.»

«Das ist alles, was wir wissen müssen», sagte Raul. «Gehen wir zurück.»

«Noch nicht», sagte Hero. «Ich möchte gern die Geschichte dieses Ortes erfahren.»

«Ich auch», sagte Richard.

«Also, ich bleibe genau hier auf diesem Fleck sitzen», sagte Raul. «Wenn ihr mich rufen hört, dann fragt euch nicht, warum, sondern nehmt die Beine in die Hand.»

Hero konnte gerade eben den Umriss des Einsiedlers erkennen. «Herr, bitte nehmt uns mit in Eure Unterkunft. Duc nos in cellam tuam, domine, quaeso

Bruder Cuthbert führte sie durch eine Felsrinne zwischen den Klippen hinauf und um Hindernisse herum, die in der Dunkelheit nicht zu sehen waren. Die Nacht war so pechschwarz, dass sich Richard an Heros Ärmel klammerte. Sie umrundeten Felsnasen, und schließlich blieb Cuthbert stehen.

«Wir sind da. Intrate. Kommt herein, kommt herein.»

Hero stellte fest, dass die Klause des Einsiedlers eine Erdhöhle war, die von einem Stück Segeltuch am Eingang vor den Unbilden des Wetters geschützt war. Als er seinen Kopf in die Höhle steckte, musste er würgen, solch ein Gestank empfing ihn. Es roch nach verwesenden Ratten unter einem feuchten Sack.

Richard schlug sich die Hand vor den Mund. «Urgh!»

«Sch. Denk an die Reinheit seiner Seele.»

Ein paar Kohlestücke glommen schwach vor sich hin. Hero und Richard setzten sich auf die eine Seite des Feuers, Cuthbert auf die andere.

«Ihr seid der erste Besuch, den ich seit Ostern empfange», sagte Cuthbert über das Feuer hinweg. «Wer von euch spricht so glänzendes Latein? Seid ihr auf einer Pilgerfahrt nach Lindisfarne gekommen?»

«Ja, in gewisser Hinsicht sind wir Pilger. Wir sind auf dem Weg in den hohen Norden.»

«Um das Wort Gottes zu verbreiten?»

«Nein, wir sind auf einer Handelsreise.»

Hero sprach auf Latein und musste für Richard übersetzen. Der junge Normanne fühlte sich unwohl.

«Bitte ihn darum, die Lampe anzuzünden.»

Cuthbert jedoch lehnte bedauernd ab. «Ich habe nur noch wenig Öl übrig. Dennoch gibt es Licht an diesem Ort – ein Licht, das hell genug ist, um auch die dunkelste Nacht zu erleuchten.»

«Erzählt uns von Eurer Insel», sagte Hero.

Cuthbert berichtete, wie Sankt Aidan im zwölften Jahrhundert das Christentum nach Northumbrien gebracht und das Kloster auf Lindisfarne gegründet hatte. Im Jahr der Klostergründung war auch Cuthberts heiliger Namenspatron geboren worden. Nach zehn Jahren Missionsarbeit hatte sich der heilige Cuthbert in eine Einsiedelei auf Inner Farne zurückgezogen – einer der seeumtosten Inseln, an denen sie vorbeigesegelt waren. Von Papst und König darum gebeten, erklärte sich der heilige Cuthbert zögernd bereit, zum zweiten Bischof von Lindisfarne zu werden, doch nach zwei Jahren ging er zum Sterben zurück in seine Einsiedelei. Elf Jahre später sollte Cuthberts Leichnam umgebettet werden, und die Mönche, die seinen Sarg öffneten, fanden ihn vollkommen unverwest vor. Die Nachricht von diesem Wunder zog ganze Pilgerscharen zum Schrein des heiligen Cuthbert. Dann aber plünderten die Wikinger das Kloster, und die überlebenden Brüder brachten den Leichnam Sankt Cuthberts aufs Festland und errichteten ihm im Kloster von Durham einen neuen Schrein.