«Vallon erwartet dich an Bord.»
Raul trottete zum Schiff. Vallon stand mit steinerner Miene an Deck, die übrige Mannschaf erwartete hinter ihm aufgereiht seinen Urteilsspruch. Raul, immer noch benebelt, nahm Achtungsstellung an, mit herausgedrückter Brust, erhobenem Kopf und rotgeäderten Augen, die ins Ungefähre starrten. Er schwankte leicht.
Vallon trat vor ihn. «Ich würde dich auspeitschen, wenn du nicht so ein dickes Fell und so einen kümmerlichen Verstand hättest.»
«Ja, Hauptmann.»
«Mund halten. Jetzt weiß ich, warum du in den Armeen von halb Europa gedient hast. Du bist eine Schande. Halt den Mund und hör zu, weil ich dir das nur ein einziges Mal sage. Noch ein Fehlverhalten, und ich entlasse dich ohne einen Penny. Dann kannst du dir deinen Heimweg alleine suchen.» Vallon trat zurück. «Das schwör ich dir. Kapiert?»
«Ja, Hauptmann.»
«Du kannst deinen Rausch in der Sägemühle ausschwitzen. Und jetzt geh mir aus den Augen.»
Als Raul davonschwankte, nahm Vallon Wayland am Arm. «Pass auf ihn auf. Und sorg dafür, dass er bei Sonnenuntergang zurück ist.»
Auf dem Holzplatz packte Raul den oberen Griff der Zugsäge und legte sich wie ein Besessener ins Zeug, bis der Holzarbeiter in der Sägegrube um Gnade flehte und von einem anderen abgelöst wurde. Raul grinste Wayland so breit an, dass seine Zahnlücken sichtbar wurden. «Zünftig arbeiten, zünftig leben. Tot ist man noch lange genug.»
Es war schon morgens warm, und im Laufe des Tages wurde es schwül. Kein Lüftchen regte sich, und an den Bäumen rührte sich kein Blatt. Der See wirkte wie ein Zinnteller, und kein einziger Fisch stieg auf, um den Wasserspiegel zu küssen. Im Süden bezog sich der Himmel und nahm eine kupferfarbene Tönung an.
Raul kam zu Wayland und wischte sich mit dem Ärmel über die Stirn. «Wir verziehen uns besser. Wenn der Sturm so heftig wird, wie es aussieht, ist die Straße bald der reinste Sumpf.»
Blitze zuckten über den südlichen Himmel, als sie die Ladung festzurrten. Donner grollte und erschreckte die Ochsen. Der Fuhrmann musste sie am Zügel führen, damit sie den stark abfallenden Weg hinuntergingen. Wayland und Raul saßen auf dem Karren und versuchten, ihre Geschwindigkeit mit derjenigen der dunklen Wolkenberge zu vergleichen, die sich über den Himmel heranschoben. Als die Stadt in Sicht kam, war die gesamte Umgebung in das geisterhafte Grau einer Welt getaucht, die kurz vor der Verfinsterung steht.
Sie waren am Stadtrand angekommen, als ein gewaltiger Blitz Wayland blendete und ihn der sofort darauf folgende Donner beinahe taub werden ließ. Dann öffnete der Himmel seine Schleusen, und eine Sintflut stürzte mit solcher Heftigkeit herab, dass sie den Boden unter einem Teppich aus Spritzwasser verschwinden ließ. Die Ochsen gingen durch und zerrten den Karren von der Straße auf ein Feld, das sich schon in einen See verwandelt hatte. Der Fuhrmann sprang vom Bock, um die Zugriemen zu entwirren. Wayland glitt vom Karren, um ihm zu helfen. Die Blitze folgten beinahe ohne Unterbrechung aufeinander und tauchten zwischen Momenten schwärzester Dunkelheit alles in grelles Weiß.
Die Ochsen hatten sich vollkommen in ihrem Geschirr verheddert. Raul tauchte neben Wayland auf und schnitt die Tiere mit seinem Messer aus den Riemen. Sofort stürmten sie buckelnd in den Sturm, und der verzweifelte Fuhrmann lief hinterdrein.
Raul lachte wie ein Geisteskranker. «Ich weiß, wo wir uns unterstellen können!», rief er und rannte spritzend durch die überfluteten Gassen.
Wayland holte ihn vor einem Haus ein, an dem ein Wirtshausschild hing. «Lernst du es denn nie?»
Raul hob beide Handflächen, wie zum Versprechen, dass er sich angemessen benehmen würde. Vom Rand des Strohdachs klatschte ihnen Regenwasser auf den Kopf. Sie standen bis zu den Knöcheln im Wasser. «Wir gehen, sobald es zu regnen aufhört. Ich schwöre es.»
Er duckte sich unter dem Türsturz hindurch. Ein weiterer Blitz fuhr gleichzeitig mit einem ohrenbetäubenden Donnern zur Erde herab. Wayland wischte sich das Wasser aus den Augen und trat über die Schwelle in eine dunkle und friedliche Bierschwemme. Ein älterer Aufwärter, der an der Tür gesessen hatte, stand auf und nahm ihnen bis zu dem Messer, das Raul unter seiner Mütze verborgen trug, sämtliche Waffen ab. «Wirtshausregel», sagte der Deutsche. «Manchmal kommen ziemlich streitlustige Gesellen herein.» Wayland folgte ihm dicht auf den Fersen und prüfte, ob von irgendwoher Ärger drohte. Die Kirche des Teufels, so hatte seine Mutter die Bierschwemmen genannt. Diese Lasterhöhle war groß, und von einer riesigen Feuerstelle inmitten des Raumes her roch es nach Torfrauch. Im Licht von Talgkerzen machte Wayland eine überraschend große Zahl von Trinkern aus.
Sie begrüßten Raul lautstark und grinsten, als er sich an den Tresen schob. Der Gastwirt war schon mit ergebener Miene dabei, die Becher bereitzustellen. «Eins muss man den Schotten lassen», sagte Raul. «Sie brauen ein gutes Bier.»
Sie nahmen ihre Becher mit zu einer Bank am Feuer. Wayland zog den einen und dann den anderen Schuh aus und streckte die Beine aus. Seine Hosen begannen zu dampfen. Er fühlte sich angenehm müde. Der Hund streckte sich aus, um sich die Flanken zu wärmen.
«Dieses Feuer brennt das ganze Jahr über», sagte Raul. «Ist schon seit hundert Jahren nicht mehr ausgegangen.»
«Ich vermute, du hast dich gestern Abend hier volllaufen lassen.»
Raul frischte seine Erinnerungen mit einem Blick in die Runde auf. Er hob seinen Becher in Richtung einer Gruppe Würfelspieler, die vor der gegenüberliegenden Wand saßen. «Siehst du diesen piktischen Wilden mit den roten Haaren dort drüben? Hört auf den Namen Malcolm.»
Wayland machte einen wüst aussehenden Kerl aus, der auf Rauls Gruß reagierte, in dem er eine Hand schützend über seinen Trinkbecher legte. Seine Gefährten lachten und schlugen auf den Tisch.
«Dem möchte ich nicht ins Gehege kommen», sagte Wayland.
«Genau das ist mir passiert. Er und ich hatten einen Riesenstreit. Er hat mich unglaublich beleidigt, hat mich Sohn einer Hure, Hundefurz und Schweineschwanz genannt. Immer weiter ging das so, er musste kaum Luft holen und hat sich kein einziges Mal wiederholt. Der ist ein echtes Großmaul. Nicht, dass ich jedes Wort genau verstanden hätte, aber was er meinte, war trotzdem klar. Besonders am Schluss, als er sein Hemd hochgezogen und mir seinen dreckigen, behaarten Arsch entgegengehalten hat.»
Wayland riss die Augen auf. «Und was hast du getan, dass er sich so aufregte?»
«Es war eine Wette, und ich habe gewonnen. Du wärst stolz auf mich gewesen.»
Wayland blinzelte. «Es ist ein Wunder, dass wir dich nicht mit aufgeschlitzter Kehle auf einem Misthaufen gefunden haben.»
«Ich habe nur deshalb so viel Ale getrunken, damit sich meine Zunge löst. Jede Beleidigung und Kränkung, die er vorgebracht hat, habe ich noch übertroffen. Ich könnte dir nicht wörtlich wiederholen, was ich gesagt habe, weil ich mich nämlich nicht mehr daran erinnern kann, aber den Abschluss meiner Vorstellung hättest du bestimmt großartig gefunden.»
«Und wie war der?»
«Ich bin zu ihm rübergegangen, hab meine Hosen aufgeknöpft und ihm in den Alebecher gepisst.»
«O Gott», stöhnte Wayland. Er warf einen verstohlenen Blick auf Malcolm und seine Kumpane. «Und was hat er getan? Was haben seine Freunde getan?»
«Haben mir das nächste Bier bezahlt. Haben mir auf die Schulter geklopft und gesagt, ich wäre der König der Lästerer.» Raul prustete vor Lachen. «Du solltest mal dein Gesicht sehen», sagte er und ließ seinen Kopf auf den Tisch sinken. Dann begann er zu schielen wie eine boshafte Kröte. «Verstehst du nicht? Es war ein Spiel. Leute zu beleidigen ist hier eine Art Sport. Flyting nennen sie es.» Raul leerte seinen Becher und deutete auf den von Wayland. «Noch eins?»
«Nein», sagte Wayland schwach. Dann sprang er auf und stemmte die Hände in die Hüften. «Auf gar keinen Fall.»