Doch es gab keinen Wind an diesem Tag, und deshalb konnte Hero den Beweis für seine Behauptung nicht antreten. Die Shearwater trieb wie ein kleiner verirrter Stern um die Kompassnadel. Als es dunkel wurde, waren sie immer noch nicht klüger, wenn auch ein Büschel Seegras, das im Meer trieb, bedeuten konnte, dass Land in der Nähe war. Hero beugte sich im Licht einer Lampe über den Kompass, bis eine Brise aus Osten die Wolken vertrieb und den Polarstern beinahe an genau der Stelle enthüllte, die Heros Nadel anpeilte.
Er blieb die ganze Nacht wach, und schließlich erschien ein blassgelber Streifen am Osthimmel. Die Sonne ging auf, und Hero sah im Norden eine lange, niedrige Wolkenbank liegen.
«Könnte ein Zeichen für Land sein», sagte Vallon.
«Beten wir, dass es so ist», sagte Raul. «Wir haben beinahe nichts mehr zu essen.»
Sie segelten näher. Möwen tauchten auf und begleiteten das Schiff.
«Eis», sagte Raul. Er deutete auf einen kühlen Schimmer hoch oben in den Wolkenschwaden. «David hat gesagt, an der Südküste von Island gibt es einen riesigen Berg aus Eis. Wenn wir da sind, wo ich glaube, dass wir sind, müssen wir Kurs auf West nehmen. Dann müssten wir es heute noch zu ein paar Inseln schaffen.»
Sie fuhren um die nebelverhangene Küste. Wayland kletterte auf die Rah, um nach der nächsten Landmarke Ausschau zu halten, und am späten Nachmittag rief er, dass Inseln voraus seien. Eine nach der anderen tauchte aus dem Dunst auf – manche wirkten wie gedrungene Festungen, eine andere wie ein schlafender grüner Wal, und eine war ein hässlicher Hügel aus runzeliger Schlacke, von deren Flanken Rauch aufstieg.
Unter feinem Nieselregen nahmen sie Kurs auf die größte Insel, segelten unter enormen Felsenklippen entlang, an deren Vorsprüngen Wolken hingen wie flauschige Baumwollbällchen. Die Wellen brandeten dröhnend und gischtspritzend durch Aushöhlungen und Grotten. Sie fuhren um eine hohe Landspitze, auf deren Plateau Seegras wuchs, und hatten zwischen abschüssigen Hügeln einen ruhigen Ankerplatz vor sich. Als sie ganz in die Bucht hineingefahren waren, schien es, als würde sich die Einfahrt hinter ihnen schließen. Die Brandung sank und wurde zu einem fernen Rauschen, beinahe unhörbar über die Schreie der Vögel hinweg, die auf den Klippen nisteten, die den Naturhafen umgaben. Papageientaucher schwirrten vor dem Schiff herum, und Robben hoben sich weit aus dem Wasser, um die Eindringlinge zu beobachten. Von den felsigen Höhen drang leises Schafsblöken herunter. Raul fuhr weit in die Bucht hinein, dann setzte er den Anker. Alle sprangen ins seichte Wasser und wateten an einen Strand mit seidenweichem schwarzen Sand. Hero stolperte mit ausgebreiteten Armen an Land, ließ sich fallen und drückte sein Gesicht in der Erde.
Als sie am nächsten Morgen aufwachten, war ihr Lager von einer Gesandtschaft Wilder umringt, die sie beäugten, als könnten sie sich nicht entscheiden, ob sie die Argonauten anbeten oder auffressen sollten. Raul begann mit ihnen zu reden. Die Inseln hießen die Westmanns, und zwar nach irischen Sklaven, die vor zweihundert Jahren ihren norwegischen Herren hierher entkommen waren. Die derzeitigen Bewohner – weniger als achtzig Seelen – überlebten durch Fischfang und Vogeljagd, tauschten Waren mit den gelegentlich durchfahrenden Schiffen und plünderten Wracks. Für ein Dutzend Nägel und einen Brocken Salz bekam Raul eine Schafshälfte und ein Bündel Papageientaucher, die am Morgen aus ihren Nestern geholt worden waren.
Sie blieben zwei Tage in dem Naturhafen, schliefen, aßen oder starrten einfach nur übers Wasser. Über der Bucht lag eine klösterliche Stille, und wenn Hero in den Monaten und Jahren, die noch kommen sollten, einmal das Herz schwer wurde, dann tauchten Erinnerungen an diese Bucht in seinem Kopf auf und beruhigten ihn. Es war kein Ort, an dem er leben wollte, doch manchmal dachte er, es wäre ein Ort, an dem er eines Tages gerne sterben würde.
Sie liefen mit einer genauen Beschreibung ihres Segelkurses aus. Nach zwei Tagen erreichten sie die südwestliche Landzunge der Hauptinsel Islands und fuhren Richtung Nordosten an der menschenleeren Küste aus Asche und Lava hinauf. Die Sonne warf einen Blutstrom auf das Meer hinter ihnen, als Wayland ausrief, dass er die Siedlung Reykjavík, die Rauchbucht, sehen könne. Richard packte Hero an den Schultern und schüttelte ihn so heftig, dass seine Zähne aufeinanderschlugen.
«Wir sind da!»
Als ihr Schiff auf den Hafen zulief, schraubte Hero seine Erwartungen noch weiter herunter. Er hatte ohnehin keine richtige Stadt erwartet und auch keine besonders große Gemeinde, aber schon mehr als die paar Häuser – man konnte nicht einmal von einem Dorf sprechen – hinter denen verstreut einige Gehöfte lagen. Nur der Anblick zweier Knarrs, die an einer Mole festgemacht hatten, belegten, dass Reyjkavík überhaupt in Verbindung mit der zivilisierten Welt stand.
Als sie den Hafen erreichten, sagte Richard ihm, dass sie den einundzwanzigsten oder zweiundzwanzigsten Mai hatten. Mehr als dreißig Tage waren seit ihrer Flucht aus England vergangen.
Island und Grönland
XXII
Ihre Ankunft musste mit Signalfeuern angekündigt worden sein. Wie sonst war die Menschenmenge auf der Mole zu erklären, die ihr Einlaufen beobachtete? Weitere Menschen kamen zu Fuß und zu Pferd herbei, einige direkt von ihren Feldern, wie man an den Hauen und Hacken sehen konnte, die sie dabeihatten. Ein Mann mit geflochtenem Bart und Ringen in den Ohren leitete die Shearwater zu einem Liegeplatz.
«Du übernimmst das Reden», sagte Vallon zu Wayland.
Der Hafenmeister wedelte mit einem Stab, um die Menge zurückzuhalten. «Woher kommt ihr?», rief er.
«England.»
«Was habt ihr geladen?»
«Unterschiedliche Waren.»
Der Hafenmeister sprang an Bord und ließ seinen Blick über die Mannschaft schweifen. «Seid Ihr der Schiffsmeister?», fragte er Vallon.
«Er spricht Eure Sprache nicht gut», sagte Wayland. «Er ist Franke.»
Der Hafenmeister war hocherfreut. «Ich habe noch nie einen Franzmann gesehen. Ich dachte, sie wären kleiner als der da.»
«Wir haben auch einen Deutschen und einen Sizilianer dabei.»
«Was ist ein Sizilianer?»
Wayland stellte ihm Hero vor. Der Hafenmeister musterte ihn mit unverhohlener Neugier. «Er ist kein Mönch, oder?»
«Nein. Ein Student der Medizin.»
«Gut. Wir haben schon mehr als genug fremde Mönche auf Island. Vor einer Woche sind wieder zwei aus Norwegen angekommen. Deutsche, die von ihrer Mutter Kirche entsandt wurden, um unsere Seelen vor der Verdammnis zu retten.»
Raul spuckte aus. «Verflucht. Ich bin von einem Paar Krähen überrundet worden.»
Mehrere Isländer hatten sich auf das Schiff gestohlen, um die Ladung in Augenschein zu nehmen. Der Hafenmeister scheuchte sie von Bord und begutachtete den Laderaum. «Diese Holzbalken werdet ihr ohne Probleme los. Was wollt ihr zum Tausch dafür haben?»
«Das entscheiden wir, wenn wir gesehen haben, was angeboten wird. Zuerst brauchen wir eine Unterkunft.»
Der Hafenmeister deutete auf ein paar Hütten, die etwas zurückversetzt hinter dem Hafen standen. «Das ist alles, was wir Ausländern anzubieten haben. Die meisten fremden Händler wohnen bei Verwandten oder Handelspartnern.»
«Diese Hütten sind nicht gut», sagte Wayland. «Wir bleiben den ganzen Sommer hier. Wir brauchen etwas, wo wir bequem unterkommen und unsere Waren verstauen können.»
Der Hafenmeister sah Vallon mit einer Art milder Aufmerksamkeit an. Es lag auf der Hand, dass er einen Anreiz für seine Hilfe erwartete. Richard gab dem Mann ein paar Münzen.
«Ich werde sehen, was ich tun kann.»
«Woher sind diese Schiffe?», fragte Wayland und deutete auf die Knarrs.
«Ich würde sagen, inzwischen sind sie weder von hier noch von da. Es sind norwegische Schiffe, die schon letzten Herbst abfahren sollten, aber sie sind zu spät losgesegelt und wurden von den Westwinden überrascht. Sie haben es nicht um die Halbinsel von Reykjavík geschafft. Waren den ganzen Winter hier. Passt auf, dass ihr mit der Mannschaft vorsichtig umgeht. Die Leute sind ziemlich am Ende mit den Nerven.»