«Wenn es Winter ist, dürfen sie es nicht wagen, aus dem Haus zu gehen», wurde Raul von Vater Saxo erklärt. «Tun sie es doch, werden sie von einer so starken Kälte erfasst, dass ihnen – wenn sie sich die Nase putzen – gleich die ganze Nase abbricht.»
Vater Hilbert nickte. «Und die Nasen, die abgebrochen sind, werfen sie einfach weg.»
«Dann passe ich besser auf, wenn ich pissen gehe», sagte Raul.
Die Mönche wechselten einen Blick. Dann beugte sich Saxo vor. «Wann warst du zuletzt in der Messe?»
«Nicht lange nach Ostern», sagte Raul, ohne eine Miene zu verziehen.
«Hast du deine Sünden gebeichtet?»
Raul zwinkerte Wayland zu. «Dafür hatte ich es zu eilig.»
Hilbert durchbohrte ihn mit ernstem Blick. «Möchtest du jetzt beichten?»
Raul blickte über den weiten Ozean. «Wie viel Zeit habt Ihr, Vater?»
Die Überfahrt verlief glatt. Sechs Tage, nachdem sie von Reykjavík abgelegt hatten, sah Wayland seine ersten Eisberge – ausgezehrte Gebilde, die nur aus Rippen und Höhlungen bestanden. Sie umrundeten Kap Farvel an der Südspitze Grönlands und segelten dann in diffusem Licht die riesenhaften Berge auf der Steuerbordseite entlang. Sie fuhren nicht bis zum Landeplatz der Ostsiedlung. Dazu hätten sie dreißig Meilen einen mit Eisschollen übersäten Fjord hinaufsegeln müssen. Stattdessen kreuzten sie vor der Küste und ruderten dann nur bis zum ersten Gehöft, das sie entdeckten. Hier verabschiedeten sich die Mönche. Mit ihnen ging der Lotse, der erklärte, er sei zu krank, um noch weiter zu fahren, und zwei isländische Seemänner. Es war nicht schwierig, Ersatz für sie zu finden. Es gab nur wenige Schiffe in Grönland, und ein halbes Dutzend Siedler bat darum, die Fremden auf die Fahrt nach Nordgrönland begleiten zu können. Nach zwei Nächten an Land segelten sie weiter und erreichten die Westsiedlung am Abend des dritten Segeltages.
Sie lag an der Spitze eines langgezogenen Fjordes – die Siedlung bestand aus kaum mehr als ein paar Grassodenhäusern und Heuwiesen vor der schwarzweißen Kulisse der Berge. Die Shearwater landete bei einem Bauernhaus in einer Bucht am Nordufer, und die Grönländer machen sich mit den verbliebenen Isländern auf, den Rest ihres Weges zu Fuß zurückzulegen. Wayland, Raul und Syth standen im abendlichen Zwielicht und wunderten sich darüber, dass es Menschen gab, die sich an solch einem entlegenen Zipfel der Welt ansiedelten.
Als sie sich am nächsten Morgen zum Frühstück hinsetzten, tauchte das grinsende Gesicht eines Mannes über dem Dollbord auf.
«Da hab ich’s ja gut getroffen, ihr Weltenfahrer.»
Der Hund baute sich vor ihm auf. Der Fremde stieß einen bewundernden Pfiff aus. «Was für ein Ungeheuer», sagte er, streckte die Hand aus, und kraulte den Hund unter der Schnauze. «Der Wolf Fenrir, der Odin verschlungen hat, war bestimmt auch nicht größer. Wenn er eine Hündin deckt, während ihr da seid, zahle ich einen guten Preis für einen Welpen. Ich würde ihn Skoll nennen, nach dem Wolf, der die Sonne verfolgt.» Dann schwang er sich an Bord. Dem kräftig gebauten Mann folgte ein stämmiger Junge. Der Mann verbeugte sich vor Syth. «Guten Morgen, liebliches Geschöpf.» Wayland und Raul hatten sich etwas unsicher erhoben. Er schüttelte ihnen die Hand. «Orm der Gierige», sagte er. «Und das ist mein Sohn Glum. Wie ich höre, sucht ihr einen Führer in die Jagdgebiete im Norden. Ihr habt Glück. Ich habe dort seit dreißig Jahren beinahe jeden Sommer Fallen aufgestellt und gejagt.» Er schnupperte genüsslich in der Luft. «Heiße Weizenfladen mit frischer Butter. Lasst sie nicht meinetwegen kalt werden.»
Wayland sank auf seinen Sitz zurück. «Möchtest du vielleicht mit uns essen?»
«Auf jeden Fall», sagte Orm. Er ließ sich auf eine Ruderbank plumpsen, nahm sich einen Weizenfladen und strich Butter darauf.
Wayland musterte den Grönländer. Vor allem fiel das von grauen Strähnen durchzogene, rote Haar auf. Orm hatte einen dichten Schopf, einen langen, zottigen Bart, und seine buschigen Augenbrauen, die aufwärts wuchsen, verliehen ihm den Ausdruck immerwährenden Erstaunens. Die hellen blauen Augen lagen tief im faltigen Gesicht. Sein Sohn ähnelte ihm mit dem kräftigen Körperbau, war aber so befangen wie sein Vater offen und gesellig. An seiner rechten Schläfe hatte er eine Einbuchtung von der Größe und Form eines Hühnereis.
«Ihr seid hinter Falken her», sagte Orm. «Ich weiß, wo man sie findet.»
«Weiße?»
«So blass wie der Wintermond.» Orm hob seine unglaublich zotteligen Augenbrauen in Syths Richtung. «Kannst du noch ein bisschen Butter erübrigen, schönes Kind?»
Raul sah ihn misstrauisch an. «Was für eine Abmachung hast du im Sinn?»
Orm stopfte sich den nächsten Weizenfladen in den Mund. «Eine, mit der beide Seiten gut fahren. Ihr braucht eine Mannschaft und einen Führer. Ich brauche ein Schiff.»
«Wie viele Männer hast du?»
«Vier Freunde, meinen Sohn und ich. Wir werden Alkvögel fangen, Wale und Walrösser jagen und Fallen für die Füchse aufstellen. Die Fahrt dauert ungefähr sechs Wochen.»
«Es kommt mir so vor, als hättest du die größeren Vorteile bei diesem Handel.»
Orm hob sein Messer. «Die Falken sind schwer zu finden und noch schwerer zu fangen. Hinter wie vielen seid ihr her?»
Die Auslöseforderung schrieb vier Falken vor, aber Wayland hatte von Beginn an geplant, mehr mitzunehmen, falls nicht alle die Reise nach Süden überleben sollten. «Acht sollten genügen.»
«Da habt ihr eine Menge Schnäbel zu stopfen. Aber keine Sorge. Ich sorge dafür, dass es ihnen nie an Futter fehlt. Verträgst du es, dich in großer Höhe zu bewegen?»
Wayland zögerte. «Ich bin einmal im Sturm auf eine hundert Fuß hohe Buche gestiegen, um einen Falken zu befreien, der sich in seinen Geschühriemchen verfangen hatte.»
«Es sind aber keine Bäume, auf die man steigen muss. Die Falken nisten in den Felswänden oben in den Wolken. Ich habe Vogelnester auf den Klippen ausgenommen, seit ich laufen kann. Glum auch. Dabei fällt mir ein – wie ich höre, habt ihr Eisen.»
Rauls Augen verengten sich. «Und wenn?»
«Ihr braucht Eisäxte. Ich kann sie bis morgen Abend schmieden lassen, und wir könnten mit der ersten Flut am Morgen auslaufen. Was sagt ihr dazu?»
Wayland sah zu Raul hinüber. Dann ließ er seinen Blick zu Glum wandern, der auf den Boden starrte. «Er ist noch ziemlich jung, oder?»
«Ein Junge kann sich halten, wo ein Mann abstürzen würde. Glum bewegt sich so geschickt wie eine Bergziege.»
«Was ist mit seinem Kopf passiert?»
«Er wurde von einem Stein getroffen, als er Alkvögel-Eier gesammelt hat. Da war er erst sieben. Aber macht euch keine Sorgen, er ist immer noch vollkommen bei Verstand. Er war nur schon immer ziemlich auf den Mund gefallen.»
«Syth kommt mit», sagte Wayland.
Nach einem winzigen Zögern sagte Orm: «Bestens. Ich habe seit dem Tod meiner Mutter keine so guten Weizenfladen mehr gegessen.»
«Nimm den letzten.»
«Sicher?»
Wayland stand auf. «Du sorgst für die gesamte Ausrüstung.»
«Gemacht.»
Wayland streckte die Hand aus. «Also sind wir uns einig.»
Orm besiegelte die Abmachung mit einem Händedruck, der einem anderen die Finger zerquetscht hätte. Zurück auf dem Anlegesteg blieb er noch einmal stehen. «Habt ihr Bier?»
«Wir haben noch ein bisschen Gerstenbier und Malzbier», sagte Raul.