«Es gibt einen Tritt für den Fuß. Siehst du ihn? Du musst mit dem linken Fuß auf diese Stelle treten, damit du mit der rechten Hand um den Felsen herumgreifen kannst. Wenn du auf der anderen Seite bist, ist es ganz leicht. Dann siehst du das Nest gleich oberhalb von deinem Kopf.»
Wayland nickte, er war zu beklommen, um sich das alles zu merken.
«Ich bleibe hier und gebe dir Anweisungen. Zuerst müssen wir das Seil befestigen.»
Sie krochen zurück, und Raul nahm Wayland beiseite. «Mach das nicht. Lass lieber den Jungen seinen Hals riskieren.»
Die Anspannung machte Wayland reizbar. «Kümmere du dich um deine Sachen, und lass mich meine machen.»
Er stand da wie ein Kind, das sich von seiner Mutter anziehen lässt, als Glum zwei Seile um seine Brust schlang und ihm den Korb über die Schulter hängte. «Ich kann dich nicht sehen, wenn du bei dem Nest bist, also musst du mir ein Zeichen geben, indem du an dem Seil ruckelst. Zweimal, wenn du mehr Seil willst. Dreimal, um mir zu sagen, dass du zurückwillst.»
«Und was bedeutet einmal ruckeln?», fragte Raul.
Ein Lächeln glitt über Glums Gesicht. «Ein Ruck bedeutet, dass das Seil gerissen ist.» Er nahm eines der Seilenden in die Hand und spannte es. «Häng dein Gewicht nicht an das hier. Es ist nicht mehr ganz neu.»
Raul musterte Glum aus zusammengekniffenen Augen. «Wie alt bist du, mein Sohn?»
«Ich bin vierzehn.»
Raul spuckte aus. «Ich wette, du wirst nicht mal zwanzig werden.»
«Vielleicht hast du recht. Es gibt nicht viele alte Knochen in unserer Familie. Aber jeder Tag meines Lebens ist ein Abenteuer.» Glum rollte die Seile aus, schlang sie einmal um die Eisenstange und gab Raul die freien Enden in die Hand. Dann ging er mit Wayland zur Felskante und legte ihm die Hand auf die Schulter. «Denk nicht daran, wie hoch es ist. Wäre die Klippe nur fünfzig Fuß hoch, dann wärst du nicht so aufgeregt, aber du würdest trotzdem sterben, wenn du abstürzt.»
Wayland versuchte zu lächeln. «Der Unterschied ist, dass ich nicht so viel Zeit hätte, darüber nachzudenken.»
Glum klopfte Wayland auf den Arm. «Geh jetzt. Das Wetter wird bald schlechter.»
Wayland richtete sich auf Raul aus und ging, die Seile zwischen den Händen durchgleiten lassend, rückwärts zur Felskante. Er hatte ein hohles Gefühl im Magen. Dann trat er mit seinem rechten Fuß ins Leere.
«Zurücklehnen», befahl Glum. «Weiter. Sieh zum Himmel hinauf.»
Wayland atmete tief ein, ließ sich nach hinten kippen und ging rückwärts den Steilhang hinab. Abrieb und Flechten, von seinen Schritten gelöst, flogen im Aufwind an ihm vorbei und juckten in seinen Augen. Raul ließ das Seil nicht gleichmäßig ablaufen, und so fühlte sich der Abstieg an wie ruckartiges Fallen und Gefangenwerden.
«Bleib zurückgelehnt!», rief Glum. «Du hast es beinahe geschafft.»
Das letzte Stück bis zu dem Felssims legte Wayland mit der Eleganz eines Kartoffelsacks zurück. Dann suchte er das Gleichgewicht und reckte den Hals. Nur noch Glums Kopf und Schultern waren zu sehen. Der Junge hob den Daumen. Als er nach der anderen Seite sah, hatte Wayland in etwa dreißig Fuß Entfernung die Felsnase vor sich, um die er herumklettern musste.
Ein wütendes krack, krack, krack übertönte Glums Anweisungen. Wayland hörte die Luft rauschen, als der Falke an ihm vorbeijagte. Er wandte sich um und sah er den Vogel zu sich zurückschauen, während er seine Flugbewegung abschloss. Dann schwang er wieder herum, strich höher in die Luft und zog seinen Körper zu einem Keil zusammen. Seine zusammengeballten gelben Fänge schossen nur zwei Fuß entfernt an Waylands Kopf vorbei. Der Falke drehte bei und kam erneut auf Wayland zu, aufwärts, wie ein Schiff, das eine Welle hinauffährt, und er sah, wie das Tier ihn anpeilte und seine Flügel anzog, bevor es, alle acht Krallen ausgefahren, an ihm vorbeijagte. Wieder und wieder griff es an, und obwohl sich Wayland sagte, dass der Vogel nicht zuschlagen würde, zuckte er jedes Mal zusammen. So bannte ihn das Tier auf dem Sims fest, bis seine Beine unter der Anspannung zu zittern begannen.
Schließlich fing Wayland an, sich seitlich auf dem Sims entlangzuschieben. Seine Augen tränten, und seine Nase triefte. Der Falke hatte abgedreht, und Waylands Selbstvertrauen nahm zu. Er kam ans Ende des Felssimses und entdeckte den Tritt. Glum hatte gesagt, er sollte mit dem linken Fuß vorangehen, aber auch der biegsamste Schlangenmensch hätte den Fuß nicht so weit vorstrecken können. Wenn er seinen rechten Fuß vorschob, so gut es ging, kam er ebenfalls nur mit der Fußspitze an die Trittvertiefung. Er würde springen müssen, doch selbst wenn er mit dem Fuß den Tritt erwischte, gab es keine Möglichkeit, sich mit den Händen irgendwo festzuhalten. Ein halbes Dutzend Mal spielte er die Bewegung im Geiste durch, so stumpfsinnig wie ein Insekt. Dann drehte er sich um. Glum deutete auf sein linkes Bein, seine Rufe wurden vom Wind weggetragen.
Wayland spürte, wie sowohl seine Willenskraft als auch seine Körperkraft nachließen. Dann übermannte ihn die grauenvolle Vorstellung, der Berg wolle ihn von sich stoßen, und er presste sein kaltes Gesicht an den Stein und klammerte sich fest. Ein Blick hinunter in die Tiefe zeigte ihm, wie langsame, übelkeiterregende Wellen auf den Strand liefen. Schwach drangen Rufe an sein Ohr. Glum hatte sich gefährlich weit über die Felskante gelehnt und ahmte eine hüpfende Bewegung nach, die darin zu bestehen schien, zunächst mit dem rechten Fuß in den Tritt zu springen, sofort mit dem linken Fuß zu folgen, und gleichzeitig die rechte Hand um die Felsnase zu schlingen. Wayland sah an den Seilen entlang, die schräg über den Steilhang liefen. Wenn der Versuch scheiterte, würde er im besten Fall dreißig Fuß tief an der Felswand entlang abstürzen. Im schlechtesten Fall würden die Seile reißen, und er hätte, bis zu dem Moment, in dem er mit zerschmetterten Gliedern irgendwo in den Felsen starb, genügend Zeit, über sein Ende nachzudenken.
Oder er könnte aufgeben. Seine Waden zitterten, und in den Fingern hatte er kein Gefühl mehr. Er nahm eines der Seile in die Hand und bereitete sich darauf vor, das Zeichen zu geben. Er warf einen letzten Blick auf die Felsnase. Er hielt inne. Glum hat recht, dachte er. Wenn dieser Fels sechs Fuß hoch wäre, würde man sich keinerlei Gedanken machen – mit dem rechten Fuß abspringen, den Tritt treffen, ausbalancieren, mit dem linken Fuß folgen, und sich nach einem kurzen Moment der Schwerelosigkeit wieder abstoßen und den Arm um die Felsnase schlingen.
Glum hatte aufgehört zu rufen. Wayland wischte sich über die Nase, atmete tief ein, konzentrierte sich, beugte das linke Knie und sprang. Zwei schnelle Schritte, und er warf den Arm um die Felsnase. Als er wusste, dass er nicht abstürzen würde, schlang er auch sein rechtes Bein um den Felsen und tastete auf der anderen Seite nach einer trittsicheren Stelle. Zuerst war da nichts, dann berührte er einen kleinen Vorsprung. Er dachte nicht mehr nach, sondern legte sein ganzes Gewicht auf den Fuß und schob sich an der Felsnase vorbei.
Nur ein Schritt trennte ihn noch von sicherem Grund. Über ihm führten rissige Felsen, über die kalkweiße Kotspuren liefen, wie eine Leiter zu dem Nestsockel. Er zog sich hinauf, kam mit den Ellbogen über die Kante und hievte sich in den Horst.
Drei zischende Nestlinge warfen sich zur Seite und streckten ihre Krallen aus. Sie waren hässlich. Struppige Jungvögel, in deren schmutziggrauem Flaum sich erstes Gefieder zeigte. Das Falkenweibchen kreiste immer noch über dem Nest, konnte jedoch wegen des Felsüberhangs nicht angreifen. Eine eben getötete Möwe lag in dem Horst, winzige Stückchen ihres dunkelroten Fleisches klebten an der wächsernen Nasenhaut der Nestlinge. Wayland setzte sich mitten in den Horst, als wäre er ein Thron, und genoss den Blick Gottes über die Welt. Die Flechten auf dem Felsgestein waren goldfarben, silberne Adern zogen sich durch den Granit, eine kleine rosafarbene Blume bebte im Wind.