Als er aus seiner Träumerei erwachte, fror er erbärmlich. Er glaubte, Stimmen gehört zu haben, und ahnte, dass sie schon einige Zeit nach ihm riefen. Die Nestlinge lagen immer noch auf der Seite und wehrten ihn mit ihren Krallen ab. Er zitterte. Wolken waren aufgezogen, und das Wasser des Fjords hatte sich schiefergrau verfärbt. Zeit zu gehen. Er nahm die Seile in die Hand und zog dreimal.
Dieses Mal kletterte er ohne zu zögern um die Felsnase. Es war keinen Augenblick zu früh. Düstere Wolken kamen vom Meer herein, und Nebelfinger tasteten sich an den Klippen hinauf. Sobald er auf dem Sims war, nahm das Falkenweibchen seine Angriffe wieder auf. Wayland beachtete es nicht und bewegte sich schnell weiter, bis er die Stelle erreicht hatte, an der er seiner Erinnerung nach abgestiegen war. Er hielt einen Moment inne und legte dann den Kopf weit zurück, um den Verlauf der Seile zu überprüfen.
In demselben Augenblick traf ihn etwas mit betäubender Wucht an der Stirn. Er bekam kaum mit, dass er von dem Sims geschleudert wurde, bis er in den Seilen hing, die ihm tief in die Brust schnitten. Seine Stirn schmerzte entsetzlich, so als hätte man ihm eine stumpfe Säge in den Kopf gerammt. Durch pulsierende rote Wellen nahm er wahr, dass er mit dem Rücken zur Steilklippe hing. Etwas klebrig Warmes floss über sein Gesicht, ließ ihn halb blind werden und erfüllte seinen Mund mit einem salzigsüßen Geschmack. Er wischte sich das Blut aus den Augen und tastete mit der Hand seine Stirn ab, um festzustellen, wie schwer der Hieb gewesen war. Sein Schädel war noch intakt, aber über seinen Augenbrauen klaffte eine tiefe Wunde.
Der Schmerz ließ Übelkeit in ihm aufsteigen. Blut rann ihm am Hals herunter. Er versuchte, mit den Füßen den Felsen zu erreichen, um sich wieder herumzudrehen. Irgendwie hatten sich die Seile auf seinem Rücken verschlungen, sodass er schräg in der Luft hing und sich nicht abstoßen konnte. Um alles noch schlimmer zu machen, hielt ihn der Korb auf Abstand von dem Steilhang. Er tastete nach den Riemen und stellte fest, dass einer gerissen war. Er kämpfte sich aus dem anderen und ließ den Korb in die Tiefe fallen. Noch immer rann ihm Blut in die Augen. Er griff nach den Seilen. Eines davon war gerissen.
Mit seinen blutverschmierten Händen bekam er keinen festen Halt an dem übriggebliebenen Seil. Er wischte sich die Hände an den Oberschenkeln ab und wollte gerade wieder nach dem Seil fassen, als er sich etwa einen Fuß angehoben fühlte. Raul versuchte, ihn hinaufzuziehen. Noch ein heftiger Ruck, und Wayland hörte das Seil über den Fels scheuern.
«Nein!»
Die Bewegungen hörten auf. Erneut wischte er sich die Hände ab und versuchte wieder, sich hochzuziehen. Er musste hinter sich über den Kopf greifen. Der Winkel war völlig falsch. Er unternahm noch ein Dutzend Versuche, dann gab er auf. Bald würde er keine Kraft mehr haben. Sein Nacken schmerzte von der Anstrengung, den Kopf hochzuhalten. Eisiger Nebel strömte an ihm vorbei. Die Kälte hatte die Blutung gestillt, und sein Gesicht begann zu erstarren. Das Seil um seine Brust schnitt so tief ein, dass er nur flach und japsend atmen konnte.
«Hör auf zu kämpfen. Ich komme herunter.»
Es war Glum. Es klang so, als sei er nicht weit über ihm.
«Wayland, ich bin auf dem Sims. Du bist ungefähr zehn Fuß unter mir. Ich lasse dir ein anderes Seil hinunter. Glaubst du, dass du es fangen kannst?»
Wayland hob schwach die Hand.
«Hier kommt es.»
Das Seil fiel zischend über seine Schulter. Er erwischte es beim zweiten Versuch. Seine Finger waren zu steif, um einen Knoten zu machen. Wayland schlang es sich zweimal ums rechte Handgelenk.
«Häng dich an das Seil. Dann kannst du dich umdrehen, und alles wird einfacher.»
Wayland packte das Seil mit beiden Händen und spannte sich an. Als sein Gewicht von dem ersten Seil auf das andere übertragen wurde, ließ der Druck auf seine Brust nach, und Luft strömte in seine Lungen.
«Dreh dich zum Fels um.»
Wayland atmete noch einige Male tief durch, bevor er mit den Füßen strampelte. Er drehte sich um und schlug mit der Brust gegen die Felsklippe. Als er durch einen Blutschleier nach oben blinzelte, sah er Glum, der von dem Sims aus zu ihm herabspähte.
«Ich glaube, du hast nicht mehr genügend Kraft, um an dem Seil heraufzuklettern. Du musst dich von Raul bis zu mir hochziehen lassen.»
Glum gab das Zeichen, indem er an seinem eigenen Seil zog. Wayland fühlte sich ein Stück in die Höhe getragen. Glum beugte sich hinab, packte ihn am Kittel und zog ihn auf den Felssims.
«Das wäre schon einmal gutgegangen. Jetzt erhole dich, bis du wieder genügend Kraft hast, um hochzuklettern.»
Wayland balancierte im nasskalten Aufwind auf dem Sims, bis sich seine Atmung beruhigt hatte, und sah dann nach oben.
«Ich bin bereit.»
Raul zog ihn hoch wie eine Rinderhälfte. Als er über die Klippenkante kroch, sah er den Deutschen hinter das Verankerungseisen gestemmt. Sobald Wayland sicheren Grund unter den Füßen hatte, stürzte Raul auf ihn zu und umschlang ihn mit den Armen. Dann ließ er ihn zu Boden gleiten, fiel auf die Knie und nahm Waylands Gesicht in beide Hände.
«Was ist passiert? Hat dich ein Stein getroffen?»
«Es war der Falke. Ich glaube nicht, dass er mich treffen wollte. Ich habe mich nur im falschen Moment zurückgebeugt und …» Ihm wurde schwindlig.
Raul begutachtete die Wunde.
«Wir müssen dich zurückbringen.»
«Ist es schlimm?»
«Sagen wir mal so: Du bist nicht mehr so hübsch wie vorher.» Dann fiel Raul auf, dass Wayland den Korb nicht mehr bei sich hatte. «Die Falken. Hast du sie verloren?»
Wayland schüttelte den Kopf.
«Sag mir nicht, dass das Nest leer war.»
Wayland hob drei steifgefrorene Finger. «Zu jung. Nicht geeignet.» Dann schienen seine Knochen zu schmelzen, und er sank in Rauls Arme.
Glum rollte die Seile auf. Er musterte das gerissene Seil und runzelte die Stirn.
«Du hattest recht damit, dass es abgenutzt war», sagte Raul.
Glum schnalzte mit der Zunge. «Nein, es war das neue, das gerissen ist.»
Syth brach in Tränen aus, als sie Wayland ins Lager brachten. Die Grönländer legten ihn in ein Zelt und versammelten sich am Eingang. Doch bis auf Raul scheuchte Syth alle weg. Dann machte sie Wasser warm und wusch Waylands Gesicht ab. Die Wunde hatte wieder angefangen zu bluten.
«Bring mir einen Spiegel.»
Syth kam mit einer polierten Bronzescheibe wieder. Wayland hielt sie hoch und betrachtete sich. Die Hinterkralle hatte ihm mitten auf der Stirn eine klaffende Wunde geschlagen. Er tastete nach dem Beutel, in dem er seine Falknerausrüstung aufbewahrte, und kramte eine Knochennadel und Zwirn heraus, mit dem er frisch gefangenen Greifvögeln die Augen zunähte.
«Wirst du sie nähen?», fragte Raul.
«Sonst heilt sie nicht gut.» Mit zitternden Händen versuchte Wayland den Zwirn einzufädeln. Dann gab er auf und reichte beides an Syth weiter.
Sie ließ den Zwirnsfaden durchs Nadelöhr gleiten und gab die Nadel zurück. Dann ließ sie sich auf die Fersen zurücksinken und biss sich auf den Zeigefinger. Doch Wayland streckte ihr die Nadel wieder entgegen. «Du machst es. Es ist nicht schwer. Ich habe einmal bei dem Hund eine Wunde genäht, als er noch jung war und einem Hirsch in die Quere gekommen ist.»
«Das kann ich nicht.»
«Soll ich’s mal versuchen?», fragte Raul.
Wayland schloss die Augen. Dann öffnete er sie wieder. «Ich mache es selbst. Du hältst den Spiegel.»
Wayland zog sich etwas hoch und ließ die Nadel über einem Ende der Wunde schweben. Das Fleisch war geschwollen und bleich, und es fiel ihm schwer, die Nadel richtig festzuhalten. Er brauchte mehrere Versuche, um die Spitze anzusetzen. Dann stieß er die Nadel durch den unteren Wundrand. Er zuckte zusammen vor Schmerz und das Ergebnis war ein falsch ausgerichteter Stich. Blut sickerte ihm in die Augen. Syth tupfte es mit einem Tuch ab.