Wayland war zu angespannt zum Schlafen. Noch bevor sich die Schatten vom Ansitz des Falken gehoben hatten, rüttelte er Glum wach. Raul und Syth schliefen noch. Der junge Grönländer rieb sich die Augen und trat aus dem Zelt. Eisengraue Wolken verhüllten die Spitze der Steilklippe. Ein rauer Wind blies vom Gletscher herab und sorgte im Fjord für kabbeliges Wasser.
«Das ist kein Tag, um einen Falken zu fangen.»
«Schlechtes Wetter macht Falken waghalsig», sagte Wayland. «Er kommt möglicherweise sofort, nachdem ich den Köder ausgelegt habe.»
Der böige Wind trieb sie auf dem Weg zu dem Unterschlupf vor sich her. Wayland glitt in seinen Schlafsack gehüllt hinein. In der Hand hielt er eine lebende Taube. Dann zog er einen Schirm aus Weidengeflecht vor die Öffnung. «Bleib außer Sicht», sagte er zu Glum. «Komm zurück, wenn die Sonne im Westen steht.»
«Es wird aber heute keinen Sonnenschein geben. Und außerdem bist du bald zum Eisklotz gefroren.»
Glum hatte recht. Wayland hatte sich kaum in den Unterschlupf gelegt, als die in der Erde gespeicherte Kälte in seinen Körper zu kriechen begann. Er verlor das Gefühl in der Hand, mit der er die Taube hielt. Er zog sie in die Höhlung zurück und wartete darauf, dass der Falke auftauchte. Doch der Ansitz blieb leer, der Himmel wurde düster, und der Wind frischte auf. Um die Mittagszeit wurde Wayland klar, dass diese Jagd keine Aussicht auf Erfolg hatte. Gerade als er sich aus dem Unterschlupf winden wollte, ließ ihm ein donnerndes Tosen die Haare zu Berge stehen. Ein Strom eiskalter Luft raste mit solcher Gewalt vom Gletscher herunter und an seinem Unterschlupf vorbei, dass es ihm die Luft aus den Lungen sog. Als er sich ein Stück vorwärtsschob, sah er, dass die Wasseroberfläche des Fjords nur noch aus stiebender Gischt bestand. Er wurde unruhig. Wenn der Sturm die Wellen flachdrücken konnte, war kein Mann imstande, darin irgendwohin zu gehen. Dann begann es zu schneien, und Wayland bekam Angst. Der Blizzard tobte wie ein weißer Strudel um ihn. Er saß in der Falle, er fror bis auf die Knochen, er wartete. Bestimmt konnte ein so wilder Sturm nicht lange dauern.
Er dauerte den gesamten Tag. Eine Wahnvorstellung von Wärme und Behaglichkeit hielt Wayland gefangen, als plötzlich der Hund seine Schnauze in den Unterschlupf steckte. Dann tauchte Glums eingemummtes Gesicht auf, die Augenbrauen weiß vor Schnee. «Komm jetzt raus!»
Die Taube war verendet. Wayland war so steif, dass Glum ihn aus dem Unterschlupf ziehen musste. Der Junge hatte sich an den Hund geseilt, und Wayland tat es ihm nach. So krochen sie blind durch das dröhnende Whiteout. Allein der Instinkt des Hundes brachte sie sicher zu der Höhle. Syth stürzte auf Wayland zu.
«Der Hund wusste, dass du in Gefahr bist, und hat angefangen zu jaulen.»
«Sie hat mich dazu gebracht, dem Hund zu folgen», keuchte Glum. «Wenn ich es nicht getan hätte, wäre sie selbst losgegangen.» Ein Feuer brannte vor dem Zelt. Glum streckte seine Hände danach aus. «Verrückt», sagte er. «Einfach verrückt!»
Waylands Kinn bebte. Er versuchte, sich zum Feuer umzudrehen. Syth ergriff seine Hände und riss erschrocken die Augen auf.
«Das sind die reinsten Eiszapfen.»
Sie zog ihn ins Zelt, drückte ihn auf ihr Lager, legte sich vor ihn, führte seine Hände unter ihre Wollsachen auf ihren Bauch und schmiegte sich mit dem Rücken eng an seinen Körper. Wayland drückte sich dicht an sie, doch vor seinem inneren Auge tobte noch immer der Schneesturm. Dann legten sich Glum und Raul an seine andere Seite, und sie drängten sich zusammen wie ein Wurf Tiere, während der Wind mit dem Zorn eines Monsters, das um seine Beute betrogen wurde, um sie heulte.
Schließlich ebbte der Sturm ab. Als Wayland aufwachte, herrschte eine unheimliche Stille. Unter seiner rechten Hand fühlte er etwas weiches und irgendwie Behagliches, und da wurde ihm klar, dass er eine von Syths Brüsten umfasste. Er schob Glums Arm von seinem Rücken, setzte sich auf und rieb sich den Schlaf aus den Augen. Warmes Licht drang durch den grobgewebten Zeltstoff herein. Wayland stand auf und trat in eine goldüberglänzte Mitternacht hinaus. Am Strand lag der Schnee mehr als einen Fuß hoch. Und drüben, auf der anderen Seite des Gletschers, saß wie ein Schnitzbild der Falke auf seinem Ansitz.
Glum kroch hinter ihm aus dem Zelt und trat neben Wayland. «Wird Zeit, dass wir hier wegkommen.»
«Du gehst mit Raul», sagte Wayland. «In drei Tagen kommt ihr zurück. Dann habe ich den Falken gefangen.»
Glum hatte Bedenken, Wayland zurückzulassen, doch Raul war froh, wieder in die raue Gesellschaft der Grönländer zu kommen. Wayland und Syth sahen den beiden nach, als sie zwischen den Eisschollen davonruderten. Sie legte ihm den Arm um die Hüfte und lächelte zu ihm empor. Zum ersten Mal, seit sie sich kennengelernt hatten, waren sie allein. Als sich Wayland umdrehte, saß das Falkenweibchen immer noch auf seinem Sitz, und Wayland ging auf, dass es nach der Fastenzeit, die ihm der Sturm aufgezwungen hatte, sehr hungrig sein musste.
«Komm mit mir zu dem Versteck», sagte er zu Syth. «Wenn der Falke mich allein dort hineinkriechen sieht, weiß er, dass es eine Falle ist.»
Auf dem Weg zum Unterschlupf sah Wayland vier oder fünf Füchse. Sie waren die reinste Plage.
Er schob sich in die Felsenhöhle und sah zu Syth auf. «Geh nicht zu weit weg», sagte er und kraulte den Hund unter dem Kinn. «Pass gut auf sie auf.»
Syth wanderte davon. Der Falke saß mit eingezogenem Kopf da. Wayland bewegte die linke Hand, um die Taube zum Flattern zu bringen. Der Falke reagierte nicht. Ein Fuchs mit einem erbeuteten Lemming zwischen den Kiefern trottete vorbei und blieb dann stehen, um die Taube anzustarren. Wayland zischte, und der Fuchs floh. Trotz der zusätzlichen Decken, die er mitgebracht hatte, ließ die Kälte Wayland lethargisch werden. Und das Sonnenlicht, das vom Gletscher reflektiert wurde, versachte ihm bohrende Kopfschmerzen.
Seine Aufmerksamkeit ließ nach. Er träumte von Syths Brüsten und von ihrer zarten Taille, als ein Fleck durch sein Gesichtsfeld zog. Er blinzelte, um den Fleck loszuwerden. Doch stattdessen wurde der Fleck größer, und da wurde Wayland klar, dass der Falke mit halb angezogenen Flügeln auf ihn zusegelte. Seine Geschwindigkeit war irreführend. Als er noch fünfzig Schritt entfernt war, hörte Wayland die Luft durch die Schwungfedern des Vogels sirren. Fünfzehn Schritt von dem Unterschlupf entfernt breitete er die Flügel aus, ruderte damit zurück, und landete im Schnee. Das Tier war unruhig. Immer wieder nahm es die Taube in den Blick und sah dann weg. Der Falke hatte noch nie zuvor eine Taube gesehen und verstand nicht, warum sie nicht aufflatterte. Schließlich entschied er, dass es sich um ein Beutetier handelte, und lief krummbeinig darauf zu. Dann blieb er erneut stehen, doch inzwischen war er so nahe, dass Wayland die Schuppen seiner krokusgelben Krallenfüße erkennen konnte. Wayland zog sich mit den Zähnen den rechten Handschuh von der Hand, als der Falke seinen Blick mit einem Kopfrucken auf etwas richtete, das sich hinter dem Unterschlupf befand. Dann zuckte er noch einmal mit dem Kopf und schwang sich mit einem rauen Schrei in die Luft. Seine Flügelspitzen wischten über den Schnee, und er war verschwunden. Wayland ließ stöhnend den Kopf auf die Arme sinken. Er war sicher, dass das Falkenweibchen ihn nicht gesehen hatte. Ein Fuchs musste es erschreckt haben.
Dann hörte Wayland Felsgestein poltern. Sein Nacken begann zu prickeln. Füchse waren zu leichtfüßig, um so laute Geräusche zu verursachen. Wahrscheinlich hatte sich Syth Sorgen gemacht und kam, um sich davon zu überzeugen, dass alles in Ordnung war. Er kämpfte seinen Ärger nieder und wartete darauf, dass sie in Sicht kam.
Doch keine Schritte waren zu hören. Ein Instinkt, der sich in seinen Jahren in der Wildnis entwickelt hatte, brachte ihn dazu, keinen Laut von sich zu geben. Er wartete. Ein scharf widerhallender Knall ließ ihn zusammenfahren – nur eine Rissbildung im Gletschereis. Die Stille zog sich in die Länge. Er lauschte mit offenem Mund und nach oben verdrehten Augen. Der Gletscher stöhnte. Das Eis zog sich unentwegt zusammen und dehnte sich wieder aus und produzierte dabei höchst beunruhigende Geräusche. Das Steingepolter war vermutlich nur dadurch verursacht worden, dass sich ein Felsbrocken unter dem schmelzenden Schnee gelöst hatte. Aber warum hatte dann der Falke einen Warnschrei ausgestoßen? Wie er so in seinem eiskalten Unterschlupf lag, musste Wayland wieder an Orms Lagerfeuererzählungen von Polarriesen mit Körpern aus Stein denken und an in Fetzen abgezogene Menschenhaut auf dem Eis.