»Herr Fandorin«, begann sie, jede einzelne Silbe skandierend, »ich muß Sie als erstes darüber aufklären, welcherart Beziehungen mich mit ... dem Toten verbanden.«
Das vorletzte Wort hatte ihr nicht über die Zunge gewollt. Auf ihrer reinen, hohen Stirn zeichnete sich eine Leidensfurche ab, doch die Stimme zitterte kein bißchen. Eine echte Spartanerin! mußte Fandorin sogleich denken.
»Anders werden Sie nicht einsehen, wieso ich weiß, was niemand sonst wußte, nicht einmal seine engsten Getreuen. Michel und ich, wir haben uns geliebt.«
Bei diesen Worten sah Frau Golowina Fandorin forschend an. Von der höflichen Aufmerksamkeit in seiner Miene offenbar unbefriedigt, glaubte sie deutlicher werden zu müssen: »Ich war seine Geliebte.«
Jekaterina Golowina preßte die zu Fäusten geballten schmalen Hände gegen die Brust, und in dem Moment kam sie Fandorin wieder wie Wanda vor, als die von der freien Liebe sprach - der gleiche Ausdruck von Provokation, die gleiche Bereitschaft, übelzunehmen. Fandorins Miene blieb höflich und unvoreingenommen. Darum seufzte Frau Golowina und erklärte es diesem Einfaltspinsel ein drittes Mal.
»Wir lebten zusammen wie Mann und Frau, verstehen Sie? Darum war er mir gegenüber offenherziger als zu irgendwem.«
»Das habe ich verstanden, meine Dame, Sie k-k-... können fortfahren«, machte Fandorin zum ersten Mal den Mund auf.
»Wobei Ihnen bekannt sein dürfte, daß Michel vor dem Gesetz verheiratet war«, meinte Frau Golowina immer noch einmal präzisieren zu müssen; sie legte sichtlich Wert darauf, jegliche Mißverständnisse in bezug auf ihre Person auszuschließen und klarzustellen, daß sie sich ihrer Situation in keiner Weise schämte.
»Mit einer geborenen Fürstin Titowa, ich weiß. Aber Michail Sobolew lebte seit langem getrennt von ihr, sie ist nicht einmal zum B-... Begräbnis angereist. Erzählen Sie von dem Portefeuille.«
»Das kommt noch«, parierte die Golowina. »Alles der Reihe nach. Zuvor muß ich Ihnen erklären ... Vor einem Monat haben Michel und ich uns gestritten.«
Sie schluchzte.
»Also, wir sind auseinandergelaufen und haben uns seither nicht mehr gesehen. Er fuhr auf Manöver, dann kam er für einen Tag zurück nach Minsk, und dann ist er ...«
»Michail Sobolews Ortsveränderungen im letzten Monat sind mir bekannt«, versuchte Fandorin seine Gesprächspartnerin höflich, aber unnachgiebig zu bewegen, auf das Wesentliche zu kommen.
Die Golowina stutzte und sagte darauf in prononciertem Ton: »Wissen Sie denn auch, mein Herr, daß Michel im Mai alle seine Aktien und Wertpapiere eingelöst, alles Geld von seinen Konten abgehoben, eine Hypothek auf sein Gut in Rjasan und noch dazu einen großen Bankkredit aufgenommen hat?«
Fandorin zog die Brauen zusammen.
»Wozu das?« fragte er.
Jekaterina Golowina ließ den Kopf sinken.
»Das weiß ich auch nicht. Es gab da irgendeine Geheimsache, die für ihn sehr wichtig gewesen sein muß und in die er mich nicht hineinziehen wollte. Mich hat das wütend gemacht, wir haben uns gezankt deswegen ... Ich habe Michels politische Ansichten nie geteilt: Rußland den Russen, vereinigtes Slawentum, nichteuropäischer Weg und dieser ganze Unfug. Unser letzter, entscheidender Streit hatte auch damit zu tun. Aber nicht nur ... Ich spürte, daß ich in seinem Leben nicht mehr die Hauptrolle spielte. Da war etwas, das wichtiger war als ich. Vielleicht auch nicht etwas, sondern jemand ...« Sie errötete. »... Aber das tut nichts zur Sache. Wesentlich ist etwas anderes.« Die Golowina senkte die Stimme. »Alles Geld befand sich in einem Portefeuille, das Michel während seiner Februarreise in Paris gekauft hat. Braunes Leder, mit zwei Silberschlössern, zu denen es zwei kleine Schlüsselchen gab.«
Fandorin kniff die Augen zusammen und überlegte, ob ein solches Portefeuille unter den bei der Durchsuchung von Zimmer N- 47 vorgefundenen Dingen gewesen war. Nein. Dessen war er sich sicher.
»Er sagte mir, er brauche das Geld für die Reise nach Moskau und Sankt Petersburg«, fuhr die Lehrerin fort. »Die Reise sollte Ende Juni stattfinden, im Anschluß an die Manöver. Sie haben das Portefeuille vermutlich nicht bei ihm gefunden?«
Fandorin schüttelte den Kopf.
»Prochor Gukmassow sagt auch, daß es verschwunden sei. Michel hatte es ständig bei sich, und im Hotelzimmer hat er es in den Tresor geschlossen, Prochor hat es mit eigenen Augen gesehen. Aber dann, als es passiert war ... Wie er den Tresor aufgesperrt hat, lagen da nur irgendwelche Papiere, das Portefeuille war nicht da. Prochor maß dem nicht viel Bedeutung bei, er war viel zu mitgenommen von alledem und wußte ja außerdem nicht, wieviel Geld das Portefeuille enthielt.«
»Nämlich w-w-... wieviel?« fragte Fandorin.
»Soweit ich weiß, über eine Million Rubel«, erwiderte Jekaterina Golowina gedämpft.
Vor Überraschung stieß Fandorin einen leisen Pfiff aus und entschuldigte sich sofort dafür. All diese Neuigkeiten gefielen ihm ganz und gar nicht. Eine Geheimsache? Was konnte ein Generaladjutant, Infanteriegeneral und Korpskommandeur für eine Geheimsache hegen? Und was für Papiere sollten in dem Tresor gelegen haben? Als Fandorin in Gegenwart des Polizeipräsidenten hineingeschaut hatte, war das Fach völlig leer gewesen. Was konnte Gukmassow bewogen haben, die Papiere vor den Ermittlungsbeamten zu verbergen? Das war gewiß kein Spaß. Dazu die große, unerhört große Summe Geld! Wozu hatte Sobolew sie benötigt? Und was die hauptsächliche Frage war: Wohin war sie verschwunden?
Den endlich einmal besorgten Ausdruck im Gesicht des Detektivs bemerkend, legte Jekaterina Golowina schnell und heftig nach: »Er ist ermordet worden, das weiß ich. Wegen dieser verfluchten Million. Und dann haben sie es so gedreht, den Tod als natürlich erscheinen zu lassen. Michel war ein kräftiger Mann, ein wahrer Recke, sein Herz hätte noch 60
hundert Schlachten und Katastrophen ausgehalten, das war seine Welt!«
»Ja«, sagte Fandorin mitfühlend, »so meinen alle.«
»Darum habe ich auch nicht auf der Heirat bestanden«, fuhr die Golowina fort, ohne auf ihn zu hören, der Ansturm der Gefühle hatte ihr eine sanfte Röte ins Gesicht getrieben. »Mir war klar, daß ich dazu kein Recht habe, er hat eine andere Mission, er kann nicht bloß einer Frau gehören, und für ein Gnadenbrot bin ich mir zu schade. Mein Gott, was rede ich da! Verzeihen Sie.«
Sie legte die Hand über die Augen und sprach nun langsamer, mühevoller.
»Als gestern Gukmassows Telegramm kam, bin ich sofort zum Bahnhof gelaufen. Paralyse des Herzens! Ich konnte es gleich nicht glauben, und als ich von dem verschwundenen Portefeuille erfuhr ... Er ist ermordet worden, so viel steht fest.«
Unversehens packte sie Fandorins Hand, und der Detektiv wunderte sich, woher ihre dünnen Finger die Kraft nahmen.
»Finden Sie den Mörder! Prochor Gukmassow sagt, Sie seien ein analytisches Genie und könnten alles. Tun Sie etwas! Sie haben diesen Mann nicht gekannt, wie ich ihn gekannt habe!«
Hier nun brach sie in Tränen aus und vergrub ihr Gesicht wie ein Kind an Fandorins Brust. Während er die Dame ungeschickt bei den Schultern nahm, fiel ihm ein, wie er erst neulich, bei ganz anderer Gelegenheit, Wanda in den Armen gehalten hatte. Die gleichen schutzlosen, zerbrechlichen Schultern, der gleiche Duft ihres Haars. Man konnte sich vorstellen, was Sobolew an der Sängerin fasziniert hatte - sie mußte ihn unweigerlich an seine Minsker Liebe erinnern.
»So wie Sie habe ich ihn natürlich nicht gekannt«, sagte Fandorin milde. »Aber ich kannte Michail Sobolew gut genug, um an der Natürlichkeit seines Todes meine Zweifel zu haben. Leute von seinem Schlag sterben nicht einfach so.«
Fandorin setzte die von Weinkrämpfen geschüttelte junge Frau in den Sessel und nahm selbst den Gang durch das Zimmer auf, bis er plötzlich achtmal hintereinander in die Hände klatschte.