Jekaterina Golowina zuckte zusammen und sah den jungen Mann aus erschrockenen, tränenüberströmten Augen an.
»Achten Sie nicht auf mich!« beeilte sich Fandorin, sie zu beruhigen. »Das ist eine fernöstliche Konzentrationsübung. Sie hilft mir, Nebensächliches beiseite zu schieben und mich auf das Wesentliche zu konzentrieren.«
Dann lief er entschlossen aus dem Zimmer, die verdutzte Golowina hinterher. Im Laufen erteilte Fandorin dem vor der Tür ausharrenden Masa Anweisung: »Schnapp dir den Werkzeugkoffer und mir nach!«
Keine dreißig Sekunden später, Fandorin und seine Begleiterin waren noch auf der Treppe, hatte der Diener sie eingeholt, lief trippelnd hinter seinem Herrn her und keuchte ihm in den Nacken. In der Hand trug er einen kleinen Lederkoffer, welcher das ermittlungstechnisch notwendige Instrumentarium enthielt - eine Vielzahl nützlicher und für einen Detektiv unentbehrlicher Dinge.
Im Vestibül klingelte Fandorin nach dem Nachtportier und befahl ihm, aufzuschließen.
»Leider ganz unmöglich!« Der Portier hob bedauernd die Hände. »Die Herren Gendarmen haben ein Siegel angebracht und den Schlüssel mitgenommen.« Und weiter, mit gesenkter Stimme: »Dort drinnen liegt der Tote, Gott hab 61
ihn selig. Im Hellwerden kommen sie ihn holen. Morgen ist doch das Begräbnis.«
»Ein Siegel, soso. F-fehlt nur noch die Ehrenwache!« brummte Fandorin. »Ehrenwache im Schlafzimmer, das wäre doch mal was. Gut, ich schließe mir selber auf. Mir nach, Masa, du mußt leuchten.«
Im Sturmschritt enterte der Detektiv die »Sobolew-Suite«, riß mit furchtloser Hand das Siegel von der Tür, entnahm seinem Köfferchen einen Bund Dietriche und stand eine Minute später im Zimmer.
Mit einem schrägen, furchtsamen Blick auf die geschlossene Tür zur Schlafkammer, schnell noch ein Kreuz schlagend, entzündete der Portier die Kerzen. Auch Jekaterina Golowinas
Blick aus schreckensweiten Augen hing wie gebannt an dem weißen Türblatt, hinter dem der balsamierte Leichnam liegen mußte, und ihre Lippen bebten. Doch Fandorin hatte jetzt keinen Sinn für die seelischen Erschütterungen der Lehrerin, er hatte zu tun. Mit dem zweiten Siegel verfuhr er ebenso umstandslos wie mit dem ersten, und einen Dietrich brauchte es diesmal nicht - die Tür zur Schlafkammer war nicht verschlossen. Ungeduldig sah sich Fandorin nach dem Diener um.
»Was stehst du wie ein Klotz? Bring die Kerzen.«
Und er betrat das Reich des Todes.
Zum Glück war der Sarg geschlossen - sonst hätte sich Fandorin womöglich, statt seiner Arbeit nachzugehen, mit dem Fräulein plagen müssen. Am Kopfende lag ein aufgeschlagenes Gebetsbuch, und eine dicke Kirchenkerze tropfte.
»Meine Dame«, rief Fandorin nach drüben, »darf ich Sie bitten, hier nicht hereinzukommen. Sie kämen ungelegen.« Und an Masa gewandt, auf japanisch: »Die Lampe, rasch!«
Mit gezückter elektrischer Miniaturlampe (englisches Fa 62
brikat!) trat Fandorin nun ohne Umschweife zum Safe und leuchtete das Schlüsselloch ab. »Lupe Nummer vier!« gab er über die Schulter Anweisung.
Aha. Die Tür hatte irgendwer kräftig angefaßt. So viele Abdrücke! Es war jetzt zwei Jahre her, daß Fandorin mit Professor Hardings Hilfe erfolgreich den mysteriösen Doppelmord in der englischen Siedlung von Tokio aufgeklärt hatte, nachdem er am Tatort auf Fingerabdrücke gestoßen war. Die neue Methode hatte Furore gemacht. Leider würden Jahre vergehen, ehe man in Rußland die nötigen daktyloskopischen Laboratorien und Karteien eingerichtet haben würde. Schade um diese bildschönen Spuren! Noch dazu direkt am Schlüsselloch. Und wie sah es drinnen aus?
»Lupe Nummer sechs!«
Deutlich ließ die starke Vergrößerung frische Kratzer erkennen, die davon herrühren mochten, daß man den Safe nicht mit dem Schlüssel, sondern mit einem Dietrich geöffnet hatte. Außerdem gab es merkwürdige Rückstände irgendeiner weißen Substanz. Fandorin faßte mit einer Miniaturpinzette zu, besah sich die Sache. Dem Anschein nach Wachs. Interessant.
»Hat er dort gesessen?« erklang hinter ihm eine dünne, gepreßte Stimme.
Verdrossen wandte Fandorin sich um. Jekaterina Golowina stand in der Tür, fröstelnd die Arme verschränkt. Sie schaute nicht nach dem Sarg, genauer: Sie war bestrebt, nicht hinzusehen, interessierte sich vielmehr für den Sessel, in dem Sobolew angeblich gestorben war. Sie braucht nicht zu wissen, wo es tatsächlich passiert ist! dachte Fandorin.
»Ich habe Sie gebeten, nicht hereinzukommen!« fuhr er die Lehrerin an, denn Strenge bewirkt in solchen Situationen mehr als Mitgefühl. Sollte die Geliebte des gefallenen Generals sich bitte schön vor Augen halten, wozu sie mitten in der Nacht in diesem Zimmer standen. Und sich gefälligst zusammenreißen.
Wortlos machte die Golowina kehrt und ging zurück nach nebenan.
»Setzten Sie sich ruhig«, sagte Fandorin laut. »Das hier kann dauern.«
Tatsächlich nahm die eingehende Besichtigung des Zimmers mehr als zwei Stunden in Anspruch. Längst hatte der Portier aufgehört, sich vor dem Sarg zu fürchten, still hockte er in seiner Ecke und döste. Masa, ein Liedlein trällernd, verhielt sich als der Schatten seines
Herrn, reichte ihm von Zeit zu Zeit die nötigen Werkzeuge. Jekaterina Golowina ließ sich kein weiteres Mal in der Schlafkammer sehen. Als Fandorin einmal nach ihr schaute, saß sie, die Stirn auf die gefalteten Hände gestützt, am Tisch. Als spürte sie den auf sie gerichteten Blick, fuhr sie hoch, sah Fandorin durchdringend an, stellte aber keine Fragen.
Erst im Morgengrauen entdeckte Fandorin einen Anhaltspunkt. Auf dem Fensterbrett des am weitesten links gelegenen Fensters war ein schwacher Sohlenabdruck zu sehen - schmal wie der einer Frau, doch handelte es sich eindeutig um einen Männerschuh, mit der Lupe ließ sich sogar das Muster aus Kreuzchen und Sternchen erkennen. Fandorin hob den Kopf. Die Lüftungsklappe im Oberteil des Fensters war nur angelehnt. Ohne den Abdruck hätte er diesem Umstand keine Bedeutung beigemessen - für einen Durchschlupf schien die Klappe viel zu eng.
»He, Wertester, aufgewacht!« sprach er den schläfrigen Portier an. »Ist hier im Zimmer schon saubergemacht worden?«
»Ganz gewiß nicht«, antwortete der Portier, sich die Augen reibend. »Wieso und wozu denn. Sie sehen doch ...« Er deutete mit dem Kopf nach dem Sarg.
»Und die Fenster, sind die Fenster geöffnet worden?«
»Keine Ahnung. Aber ich kann es mir nicht denken. Wo ein Toter liegt, läßt man die Fenster zu.«
Fandorin besichtigte die übrigen zwei Fenster, ohne noch etwas Auffälliges zu finden.
Um halb fünf mußte er die Ortsbesichtigung abbrechen. Der Maskenbildner nebst Gehilfen war erschienen, um Achilles für seine letzte Streitfahrt zu rüsten.
Der Detektiv entließ den Portier und verabschiedete sich von Frau Golowina, ohne ein überflüssiges Wort zu verlieren. Sie drückte ihm fest die Hand, blickte ihm forschend in die Augen - auch sie wußte die Zunge im Zaum zu halten. Eine Spartanerin, wie gesagt. Fandorin konnte es nicht erwarten, allein zu sein. Es drängte ihn, die Ergebnisse der Durchsuchung zu überdenken und das weitere Vorgehen daraus abzuleiten. Trotz der durchwachten Nacht war ihm nicht nach Schlafen zumute, er empfand nicht einmal Müdigkeit. Kaum war er in seinem Zimmer, ging er an die Analyse.
Auch wenn die nächtliche Besichtigung von N- 47 nicht viel hergegeben hatte, bot sich mittlerweile ein halbwegs klares Bild.
Fandorin mußte sich eingestehen, daß ihm die Version, der Nationalheld könnte um des schnöden Geldes willen ermordet worden sein, zunächst unwahrscheinlich, wenn nicht abenteuerlich vorgekommen war. Doch daß jemand in besagter Nacht durch die Lüftungsklappe ins Zimmer eingedrungen war, den Tresor geöffnet und das Portefeuille entwendet hatte, stand wohl fest. Und das schien mit Politik wenig zu tun zu haben. Der Dieb hatte die an selbigem Ort verwahrten Papiere verschmäht - die doch immerhin so brisant sein mußten, daß Gukmassow es für nötig erachtet hatte, sie vor Eintreffen der Beamten zu entfernen. Also hatte der Einbrecher sich tatsächlich nur für das Portefeuille interessiert?