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Anscheinend hatte Herr Fandorin die gestrige Nacht nicht untätig verbracht. Ahimaaz ergriff Vorsichtsmaßnahmen, um nicht aufzufallen. Er lief in einen Hausflur, riß sich kurzerhand den Bart vom Kinn, setzte sich eine Brille mit Fenstergläsern auf die Nase, warf die Mütze weg und wendete den Gehrock. Das Innenfutter des Rocks war mehr als ungewöhnlich: eine Beamtenuniform mit abgetrennten Litzen kam zum Vorschein. Als Kontorist war er in den Flur hineingelaufen, als Beamter im Ruhestand kam er zehn Sekunden später wieder heraus.

Weit war Knabe nicht gekommen. Er stand unschlüssig vor der verspiegelten Tür einer französischen Konditorei, ging schließlich hinein.

Ahimaaz folgte ihm.

Mit Appetit verzehrte der Geheimdienstoffizier eine Creme brule und trank Selterswasser dazu. Unversehens saß plötzlich ein junger Mann im Sommeranzug mit etwas sehr flinken Augen am Nachbartisch. Das Gesicht hinter einer Modezeitschrift versteckend, spähte er angestrengt über deren Rand hinweg. Die Droschke von vorhin parkte auch schon am Straßenrand. Der Arbeiter war allerdings verschwunden. Herrn Knabe wurde ordentlich auf die Pelle gerückt. Aber das störte nicht, es war eher gut. Wenn sie ihn nur nicht verhafteten. Womit aber nicht zu rechnen war - was hätte die Beschattung dann für einen Sinn gehabt. Sie wollten seine Mittelsmänner herausfinden. Leider hatte Knabe keine Mittelsmänner, sonst hätte er nach Berlin nicht vom öffentlichen Amt aus telegraphieren müssen.

Der Spion blieb längere Zeit in der Konditorei sitzen. Auf den Eisbecher folgten Kakao und Marzipan, dann bestellte er ein Tuttifrutti. Sein Appetit war nicht zu zähmen. Der junge Spitzel wurde von einem älteren abgelöst. Anstelle der einen Droschke fuhr draußen die nächste vor, die ebenso unlustig schien, Fahrgäste aufzunehmen.

Als Ahimaaz glaubte, lange genug vor den Augen der Polizei herumgesessen zu haben, gab er sich einen Ruck und verließ das Lokal als erster. Er ging zum Postamt zurück und wartete dort. Unterwegs hatte er seinen sozialen Status um einiges niedriger gehängt: Der Rock war abgelegt, die Brille fehlte, über dem aus der Hose hängenden Hemd trug er einen Riemen und auf dem Kopf ein schlichtes Käppchen. Als Knabe im Eingang erschien, stand Ahimaaz unmittelbar neben dem Telegraphenschalter und führte, inbrünstig die Lippen bewegend, ungelenk den Stift über das Formular.

»Hör mal, guter Mann«, fragte er den Beamten, »ist das auch ganz bestimmt morgen dort?«

»Nicht morgen, sondern heute. Wie oft soll ich dir das noch sagen!« kam die Antwort von oben herab. »Und schreib nicht so viel, das ist kein Liebesbrief. Sonst mußt du hinterher betteln gehen. Iwan Jegorytsch, für Sie ist ein Telegramm gekommen!« Während Ahimaaz so tat, als schielte er erbost nach dem rotbäckigen Deutschen, sah er in Wirklichkeit auf das Papier, das eben über den Tresen gereicht wurde. Wenig Text und sonst nur Zahlenreihen - das sah tatsächlich aus wie Börsendaten. Nun ja. In Berlin schienen sie ein grobes Handwerk zu pflegen. Oder sie unterschätzten die russische Gendarmerie.

Knabe sah flüchtig auf die Depesche und steckte sie ein. Sie war natürlich chiffriert. Bestimmt ging er jetzt nach Hause, um sie zu entschlüsseln.

Ahimaaz brach die Verfolgung ab und kehrte zu seinem Dachbodenausguck zurück. Knabe war schon zu Hause - er hatte offenbar eine Droschke genommen. (Am Ende gar die nämliche?) Jetzt saß er am Tisch und hantierte mit irgendeinem Buch, übertrug etwas auf einen Zettel.

Dann aber wurde es interessant. In Knabes Bewegungen kam Hektik. Einige Male wischte er sich nervös den Schweiß von der Stirn. Feuerte das Buch auf den Boden, faßte sich mit den Händen an den Kopf. Sprang auf und fegte durch das Zimmer. Las wieder in seinen Notizen. Die eingegangene Nachricht schien nicht eben erfreulich zu sein.

In der Folge wurde es noch interessanter. Der Spion verschwand in der Tiefe der Wohnung und kam mit einem Revolver in der Hand zurück. Er nahm vor dem Spiegel Platz. Dreimal setzte er sich den Revolveran die Schläfe, einmal schob er sich den Lauf in den Mund.

Kopfschüttelnd sah Ahimaaz zu. Wie wunderbar sich alles fügte. Geradezu märchenhaft. Nun komm schon, erschieß dich.

Was mochten sie ihm aus Berlin telegraphiert haben? Eigentlich konnte man es sich denken. Der Vorstoß des Geheimdienstoffiziers hatte, gelinde gesagt, keine Billigung gefunden. Der Mann, der sich für den Mörder des General Sobolew hielt, hatte seine Karriere unwiderruflich verpfuscht.

Aber Hans-Georg Knabe erschoß sich nicht. Er ließ die Hand mit dem Revolver sinken. Nahm wieder seinen Gang durch das Zimmer auf. Den Revolver steckte er ein. Wie schade.

Was in der Wohnung drüben weiter geschah, konnte Ahimaaz nicht mehr verfolgen, denn Knabe schloß die Fenster.

Runde drei Stunden mußte Ahimaaz mit den über die Scheiben tanzenden Sonnenkringeln vorliebnehmen. Ab und an spähte er nach dem Spitzel, der sich unten die Füße in den Bauch stand. Dabei malte er sich aus, wie das Schloß aussehen sollte, das demnächst aus dem höchsten Felsen von Santa Croce wachsen würde. Es sollte Ähnlichkeit mit einem Turm haben, am liebsten so einem, wie sie über den Frieden der kaukasischen Bergdörfer wachen. Aber auf der oberen Plattform sollte sich unbedingt ein Garten ausbreiten. Palmen mußte er natürlich in Kübel pflanzen, aber für die kleineren Sträucher ließ sich eine Grasnarbe aufbringen

Ahimaaz war eben dabei, das Problem der Bewässerung seiner hängenden Gärten zu durchdenken, als Knabe aus dem Hauseingang kam. Zuerst sah man den Spitzel munter werden, er sprang von der Tür zurück und versteckte sich hinter der Hausecke, Sekunden später erschien der Deutsche selbst. Er blieb vor der Tür stehen und schien auf etwas zu warten. Worauf, klärte sich bald.

Ein offener Einsitzer kam, von einem Falben gezogen, aus der Hofeinfahrt gerollt. Der Knecht sprang vom Bock, übergab die Zügel an Knabe, welcher gewandt in das Gefährt hüpfte, und der Falbe setzte sich munter in Trab.

Das war Pech. Knabe entzog sich der Beobachtung, ihm zu folgen war nicht möglich. Ahimaaz setzte sein Fernglas an und sah gerade noch, wie der Spion sich einen roten Bart anklebte. Was hatte er denn nun wieder vor?

Der Polizeispitzel unten schien immerhin gelassen zu bleiben. Er blickte der Kutsche nach, notierte etwas in sein Büchlein und ging davon. Anscheinend wußte er, wohin Knabe sich aufgemacht hatte und zu welchem Zweck.

Einerlei. Der Spion war mit leeren Händen losgefahren und würde demnach wiederkommen. Es war an der Zeit, die Operation vorzubereiten.

Fünf Minuten später stand Ahimaaz in Knabes Wohnung. In aller Ruhe schaute er sich um. Er stieß auf zwei Geheimfächer. In einem fand sich ein kleines chemisches Laboratorium: Geheimtinten, Gifte, ein ganzer Ballon Nitroglyzerin. (Beabsichtigte da einer, den Kreml in die Luft zu sprengen?) In dem anderen lagerten mehrere Revolver sowie Geld - grob geschätzt an die dreißigtausend - und ein Buch mit logarithmischen Tafeln. Das mußte die Entschlüsselungstabelle sein.

Ahimaaz rührte den Inhalt der Geheimfächer nicht an. Sollten die Gendarmen damit glücklich werden. Die entschlüsselte Depesche hatte Knabe bedauerlicherweise verbrannt - im Waschbecken fanden sich Spuren von Asche.

Ungünstig war, daß die Wohnung keinen Dienstbotenaufgang hatte. Das Flurfenster ging auf einen flacheren Anbau hinaus. Ahimaaz kletterte nach draußen, spazierte über das dröhnende Dachblech und überzeugte sich, daß man von hier aus nicht weiterkam. Das Fallrohr der Rinne war verrostet und würde dem Abstieg nicht standhalten. Nun gut.

Er setzte sich ans Fenster und richtete sich auf eine längere Wartepause ein. Irgendwann zwischen neun und zehn - ein langer Sommertag ging allmählich zur Neige - kam die bekannte Kutsche um die Ecke geschossen. Der Falbe im gestreckten Galopp, Schaumfetzen verstreuend, Knabe im Stehen lenkend und verzweifelt die Peitsche schwingend.