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Also war er zu dem schwarzen Wasserfall aufgestiegen und hatte - wie seine Vorfahren jahrhundertelang vor dem Einzug des neuen Glaubens - einen Hasen gefangen, um ihn der Göttin Dub Essa, der dunklen Herrin des Wasserfalls, zu opfern und sie um die Erfüllung eines Wunsches zu bitten. Aber sie sandte ihm kein einziges Zeichen als Antwort. Er wartete eine Weile und versuchte, seine Ungeduld zu zügeln. Doch wollte er die Nacht nicht in der unwirtlichen Bergregion verbringen. Ringsum war alles still, und er sah den Nebel vom Meer heraufziehen. Zunächst war er unschlüssig gewesen, hatte dann aber den Wasserfall hinter sich gelassen und war bergab gelaufen. Als der Nebel plötzlich ins Tal herabsank, befand er sich schon an den unteren Hängen.

Entschlossen lief er weiter. Er hörte das vom Nebel eigenartig gedämpfte Rauschen des Baches neben sich. Er vermochte nur noch knapp drei Meter weit zu sehen und mußte sich auf jeden einzelnen Schritt konzentrieren.

Jetzt näherte er sich dem Weg am Fuße der Berge, der nach links vom Bach fort und schließlich um die Berge herum zu seinem Heim führte. Er war erleichtert, die dunklen, verschleierten Berggipfel hinter sich gelassen zu haben.

Da vernahm er plötzlich vor sich den hohen schrillen Ton einer kleinen Glocke. Er war durchdringend, auch wenn der Dunst ihn ein wenig dämpfte. Erschrocken blieb er stehen.

Neben einem dunklen Baumstamm gewahrte er einen Schatten, dessen Umrisse er in den Nebelschwaden kaum erkennen konnte.

Wieder erklang die Glocke.

»Mögen die Götter dich heute beschützen, Schäfer Nessan«, sagte eine hohe Stimme in eigenartigem Singsang. Man konnte sie kaum menschlich nennen, so sehr schien sie durch die feuchte schwere Luft entstellt.

Nessan kniff die Augen zusammen, um besser zu sehen. Ihn fröstelte genauso wie vorhin, als ihn der Nebel eingeholt hatte.

»Wer spricht da?« erwiderte er mürrisch und versuchte, seine Nervosität zu verbergen.

»Ich«, erscholl die Stimme. Ein glucksendes Kichern folgte. Wieder ertönte die schrille Glocke. »Salach! Salach!« rief der Schatten ihm unwillkürlich zu, als er sich näherte.

Nessan wich erschrocken einen Schritt zurück. »Bist du ein Aussätziger?«

Er konnte den am Baumstamm kauernden Mann auch beim Nähertreten nicht genau ausmachen, denn er trug einen Umhang mit Kapuze. Weder das Gesicht noch andere Körperteile waren entblößt, außer der weißen - beinah schneeweißen - klauenartigen Hand, in der sich eine kleine Glocke befand.

»So ist es«, war die Antwort. »Ich glaube, du kennst mich, Nessan von Gabhlan.«

Nessan zögerte. Als ihm dämmerte, wer der Leprakranke war, bekam er auf einmal Angst. Wer hatte nicht schon in den angrenzenden Tälern von dem Herrn der Bergpässe gehört, dessen Name in einem Atemzug mit Greuel und Schrecken genannt wurde?

»Ich kenne dich, Herr«, flüsterte er, »doch woher weißt du meinen Namen?«

Diesmal erklang ein Lachen durch den Nebel.

»Ich weiß viele Dinge, denn gehören das Land und die Menschen hier nicht mir? Wieso sollte ich nicht wissen, Nessan, Schäfer von Gabhlan, warum du auf dem Gipfel der Drei Senken warst? Wieso sollte ich nicht wissen, warum du die dunkle Herrin des Wasserfalls angefleht hast, obwohl es diejenigen, die den neuen Glauben predigen, verbieten?«

Nessan holte tief Luft. »Woher weißt du das alles?«

Er wollte fordernd klingen und dem Mann mutig entgegentreten, doch er wirkte eher eingeschüchtert.

»Das geht dich nichts an, Nessan.«

»Was willst du von mir, Herr? Ich habe dir nichts getan.«

Daraufhin lachte sein Gegenüber erneut auf.

Nessan straffte sich innerlich. »Wieso sollte ich glauben, daß du all die Dinge wirklich weißt, wie du behauptest?« Plötzlich faßte er mehr Mut. »Du meinst, du wüßtest, warum ich dort oben war? Vermutungen kann ja jeder anstellen, der einen von da absteigen sieht.«

Wieder läutete die Handglocke, als wollte sie ihn zum Schweigen bringen.

»Ich habe hier am Weg auf deine Rückkehr gewartet.« In der Stimme schwang nun etwas Bedrohliches mit. »Weshalb bist du losgezogen und hast der dunklen Herrin des Wasserfalls einen Hasen geopfert? Ich werde es dir sagen. Ganze zehn Jahre sind seit deiner Heirat mit Muirgen vergangen. Erst vor kurzem hat sie ein Kind zur Welt gebracht, aber es war eine Totgeburt. Die Hebamme hat euch erklärt, daß ihr nie wieder ein Kind haben könnt. Doch dein Weib hat immer noch die Milch, die für euer Kind bestimmt war. Muirgen wünscht sich nichts sehnlicher, als schwanger zu sein. Und da du ihr Hoffen und ihre Verzweiflung miterlebst, bist du selbst ganz verzweifelt.«

Nessan blieb wie angewurzelt stehen und lauschte mit wachsender Furcht den Worten.

»Erst letzte Woche bist du mit Muirgen in die kleine Kapelle an der Furt des Imigh gegangen, um dort zu beten. Du hast den Geistlichen gebeten, bei Christus und der Heiligen Mutter Maria Fürsprache für euch einzulegen. Aber du hast gewußt, daß eure Gebete und euer Flehen nicht erhört werden würden. Deshalb hast du dich wieder auf die alten Bräuche, auf den alten Glauben besonnen. Du bist losgezogen, um Dub Essa zu bitten, Muirgen durch ein Wunder zur Mutter zu machen.«

Nessan ließ den Kopf auf die Brust sinken, seine Schultern sackten zusammen. Er kam sich wie ein kleiner Junge vor, dessen Vergehen entdeckt worden war und der nun die unvermeidliche Strafe erwartete.

»Woher ... weißt du das alles nur?« Er versuchte, selbstsicherer zu klingen.

»Ich habe schon gesagt, daß dich das nichts angeht. Ich bin Herr dieser dunklen Täler und der Gipfel darüber. Ich erkläre dir hiermit, daß du das nicht begreifen mußt. Kehr heim, und du wirst sehen, deine Gebete wurden erhört. Muirgens Wunsch ist in Erfüllung gegangen.«

Nessan hob sofort den Kopf.

»Du meinst .«

»Kehr heim. Kehr nach Gabhlan heim. Auf deiner Türschwelle wird ein Knabe liegen. Frage nicht, woher er kommt und weshalb er zu dir kam. Verrate niemandem, auf welche Weise er zu dir gelangt ist. Von nun an wird es euer Kind sein, und du wirst den Knaben Dioltas nennen. Du wirst ihn großziehen, damit er später Schäfer in diesen Bergen wird.«

Nessan runzelte erstaunt die Stirn.

»Dioltas? Warum sollte ein unschuldiger Knabe denn >Rache< genannt werden?«

»Frage nicht, woher er kommt und weshalb er zu dir gelangt ist«, wiederholte der Aussätzige mit Nachdruck. »Man wird dich beobachten. Verstößt du gegen diese Regeln, wirst du bestraft werden. Hast du das verstanden?«

Nessan dachte einen Augenblick nach, dann neigte er zustimmend den Kopf. Warum sollte er mit den alten Göttern hadern, die seine Gebete erhört und diesen gespenstischen Kranken als Boten gesandt hatten?

»Ich habe verstanden«, erklärte er leise.

»So geh, aber verrate niemandem etwas von unserem Treffen. Vergiß, daß ich es war, der deine Gebete erhört hat. Vergiß, daß ich es war, der dir dieses Geschenk machte, erinnere dich einzig und allein daran, daß du in meiner Schuld stehst. Eines Tages werde ich dich vielleicht um einen Gefallen bitten. Bis dahin geh nun! Geh rasch!«

Nessan zögerte noch einen Augenblick, doch da hob der furchteinflößende Mann einen Arm. Er sah das tote weiße Fleisch seiner Hand und den knöchernen Finger, der in dem trüben Dunst auf den Weg vor ihm zeigte. Ohne ein weiteres Wort von der sitzenden Gestalt entfernte sich der Schäfer. Nach drei, vier Schritten blickte er unvermittelt zurück. Ein leichter Wind war aufgekommen, bald würde der Nebel abziehen.

Nun konnte er sogar schon den Baum erkennen, doch niemand saß mehr darunter. Mit offenem Mund schaute sich Nessan weiter um. Offenbar befand er sich allein an dem Ort. Er spürte, wie eisige Kälte seinen Nacken hochkroch. Er drehte sich rasch um und eilte nach Hause.