Sie setzte sich aufs Bett, versenkte den Kopf in ihren Händen und stöhnte laut.
»O Eadulf! Wo bist du, wenn ich deine Stärke und Gelassenheit brauche?« flüsterte sie. Sie schaukelte eine Weile vor und zurück; schließlich versuchte sie zu ergründen, was Eadulf vorhatte. Welchen Plan verfolgte er? Wo war er hingeritten?
Als sie draußen auf dem Hof Schritte hörte, stand sie auf. Sie lehnte sich ans Fenster und blickte hinunter. Es wurden Pferde zum Ausritt vorbereitet. Colgu stellte den feindlichen Fürsten sogar seine Pferde zur Verfügung, damit sie schnell und wohlbehalten in ihre Heimat zurückkehren konnten.
Sie verließ ihre Kammer und eilte den Gang entlang und die Treppen hinunter in den Hof. Sie schaute sich nach Gorman um, der die Ui Fidgente begleiten sollte. Keine Spur von ihm weit und breit, doch sie entdeckte Caol, der gerade ein Pferd aus dem Stall führte.
»Wo ist Gorman?« fragte sie neugierig.
»Fort«, erwiderte Caol lakonisch. Caol hatte gerade sein Pferd bereitgemacht, um die Fürsten zu begleiten.
»Ich dachte, daß Gorman die Ui Fidgente zur Straße nach Norden bringen sollte.«
Caol zuckte mit den Achseln. »Ich weiß nur, daß Gorman mich gebeten hat, seinen Auftrag auszuführen. Er sagte, er hätte andere dringende Angelegenheiten zu klären, die ihn von Cashel fortführten.«
»Dringende Angelegenheiten?«
»Er ließ sein Pferd satteln.«
Als die drei Ui Fidgente herausgeführt wurden, schwang sich Caol auf sein Pferd. Fidelma eilte zum Tor, wo Finguine darauf wartete, die drei ehemaligen Geiseln zu verabschieden.
»Weißt du, in welcher Mission Gorman aus Cashel aufgebrochen ist?« fragte sie Finguine ohne Umschweife.
Der sah sie verständnislos an.
»Auf meinen Befehl ist er jedenfalls nicht unterwegs, Cousine. Ich dachte, er würde die Stammesfürsten begleiten.«
»Er hat Caol gebeten, das zu tun. Caol und die Stammesfürsten brechen jeden Moment auf.«
»Nun gut, vielleicht hat er etwas Privates zu regeln.« Finguine sprach einen der Wachposten am Tor an. »Hat Gorman euch gesagt, weshalb er Cashel verlassen wollte?«
Der Wächter schüttelte den Kopf. »Nein, Finguine. Er ist vor wenigen Augenblicken erst an mir vorbeigeritten, aber gesagt hat er nichts.«
Fidelma runzelte die Stirn.
»Vermutlich hast du nicht gesehen, in welche Richtung er ritt, oder?«
»Ich sah, wie er den Hügel hinunterritt und dann weiter durch die Stadt. Er nahm den Weg nach Westen.«
Plötzlich fühlte Fidelma, wie ihr ein eiskalter Schauer über den Rücken lief. Gorman war also nach Westen geritten, nach Westen, auf dem gleichen Weg, den Eadulf genommen hatte. Nach Westen zur Abtei von Colman.
Kapitel 12
Eadulf hatte gleich hinter Cnoc Loinge eine Nacht in einem Gasthof verbracht. Er hatte nicht noch einmal Fiachraes Gastfreundschaft in Anspruch nehmen wollen und war deshalb einen Umweg geritten. Erst als die Dämmerung hereinbrach und Nebel sich von den Bergen senkte, hatte er sich gefragt, ob das richtig gewesen war. Doch da hatte in der Ferne ein Licht aufgeblinkt. Kurze Zeit später hatte er sein Pferd unter der Laterne eines Gasthofs zum Stehen gebracht. Auf einem Schild stand »Bruden Slige Mudan«.
Eadulf war immer wieder davon beeindruckt, was man in den fünf Königreichen unter Gastfreundschaft verstand. Allerorts gab es Herbergen mit freier Kost und Logis für jedermann. Jeder Clan besaß einen eigenen Herbergswirt, der brugaid genannt wurde. Dessen Pflicht war es, ein für alle Reisenden offenes Haus zu führen. Der brugaid erhielt ein Stück Land und andere Vergütungen, um die laufenden Kosten für die Herberge zu bestreiten. Sein Berufsstand genoß hohes Ansehen. Die meisten Betreiber öffentlicher Herbergen waren vom Rang eines bo-aire, eines Friedensrichters, und es stand in bestimmten juristischen Fällen in ihrer Macht, Recht zu sprechen. Sie waren auch befugt, Versammlungen zur Wahl des Fürsten ihres Stammesgebiets abzuhalten. In jedem Gebiet gab es mindestens eine solche öffentliche Herberge, die vom jeweiligen Stamm unterhalten wurde.
Doch nicht in allen Gasthöfen konnte man kostenlos essen und übernachten. In Ferlogas Wirtsstube und in der von Aona am Brunnen von Ara konnte man das nicht, wie Eadulf festgestellt hatte. Es waren private Einrichtungen, in denen die Gäste bezahlen mußten.
Eadulf hatte eine erquickliche Nacht in der Herberge an der Straße von Mudan verbracht, zumindest was sein leibliches Wohl betraf. Die Speisen und Getränke waren köstlich, und auch das Bett war sehr bequem gewesen. Der Wirt war freundlich auf alle Fragen Eadulfs zur Abtei von Colman eingegangen. Es waren in letzter Zeit eine Reihe von Reisenden vorbeigekommen, doch an die aus dem fraglichen Zeitraum konnte er sich nicht genau erinnern. Er hatte Eadulf darauf aufmerksam gemacht, daß die Straße bald in das Land der Ui Fidgente führen würde. Der Wirt hatte wenig Respekt für seine Nachbarn bewiesen und vor Eadulf eine Reihe von derben Flüchen gegen sie ausgestoßen.
Eadulf ritt nun weiter. Es war ziemlich kalt, und es fielen sogar ein paar Schneeflocken vom grauen Himmel, doch der Schnee blieb nicht liegen. Obwohl die Tage jetzt sehr kurz waren, kam Eadulf gut voran. Auch wenn er nicht der beste Reiter war, so schien er sich, ohne dem kritischen Blick Fidelmas ausgesetzt zu sein, auf dem Pferd gut zu behaupten. Der Ritt durch die weiten Wälder der breiten Ebene, die sich von Westen her erstreckte, verlief ohne Zwischenfälle und war leicht. Es gab keine Anzeichen für feindliche Übergriffe von den Ui Fidgente. Ganz im Gegenteil, die in dieser Gegend wohnenden Leute schienen genauso höflich zu sein wie überall. Es dauerte eine Weile, ehe er die breite waldige Ebene durchquert hatte, dann machte er im Süden das Gebirge aus und die Straße, die sich am Fuß der Berge entlangzog. Als er über einen Paß zwischen zwei höheren Bergen ritt, waren die Bergspitzen vom Nebel eingehüllt. Er gelangte an einen breiten Fluß.
Eadulf mußte wieder nach Süden reiten, er hielt Ausschau nach einer Furt oder einer Brücke. Bald be-gegnete er einem Holzfäller. Der zeigte ihm den Weg zu einer Furt und erklärte ihm, daß das Gewässer Fi-als Fluß genannt wurde. Eadulf beging den Fehler, sich laut zu fragen, wer Fial gewesen sein mochte. Der Holzfäller erzählte ihm bereitwillig, daß sie die ältere Schwester von Emer, der Tochter von Forgall von Manach, gewesen war. Und als Eadulf dann auch noch sagte, daß er diese Personen ebenfalls nicht kannte, fing der Mann von dem großen Helden von Ulaidh, Cuchulainn, an zu reden, der Fial als seine Geliebte abgewiesen und sich ihrer jüngeren Schwester Emer zugewandt hatte. So wurde er ziemlich lange aufgehalten. Als er schließlich die Furt durch den Fluß gefunden hatte, war es schon dunkel.
Er setzte sich hin und dachte einen Moment nach. Er überlegte, ob er es wagen sollte, die Furt zu durchqueren. Denn auf dieser Uferseite war ihm keine Unterkunft bekannt, während auf der anderen Seite ein schwaches Licht leuchtete. Er hatte von Fidelma gelernt, daß ein Pferd ein intelligentes Wesen war und gewöhnlich von allein einen sicheren Weg durchs Gewässer fand, wenn man es laufen ließ. Mit Gefühl bewegte er das Pferd in den dunklen Fluß und gelangte unbeschadet hinüber. Dann hielt Eadulf auf das Licht zu. Ringsum wurde es immer dunkler. Er konnte gerade noch erkennen, daß er sich auf einem breiten Weg befand. Von der Umgebung war nichts mehr zu sehen. Weder Mond noch Sterne leuchteten. Dicke Wolken hingen tief am Himmel. Er wußte nur, daß er sich Richtung Süden bewegen mußte.
Nach einer Ewigkeit merkte er, daß der Weg steil bergab führte, und plötzlich stand er vor der Laterne, die ihm geleuchtet hatte. Er war an einem Gasthaus angelangt. Erleichtert glitt er vom Pferd und fand ein Geländer, um es anzubinden. Steif und ziemlich durchgefroren betrat er die Gaststube und wurde von einem wärmenden Feuer empfangen. Als er die Tür hinter sich schloß, stampfte er mit den Füßen auf, damit sie besser durchblutet würden. Er blickte sich um. Das Gasthaus war leer, zumindest schien es so. Dann tauchte aus einer anderen Tür eine Frau auf und lächelte ihn an. Ein großer Mann mit Hakennase und schwarzen mißtrauischen Augen folgte ihr.