»Guten Abend, Fremder. Du bist sehr spät unterwegs«, sprach er, und es klang nicht gerade herzlich.
Eadulf legte seinen Umhang ab und sah, daß die beiden sich anblickten, als sie entdeckten, daß er ein Mönch war.
»Ich habe den Weg kaum erkennen können«, gestand er und ging unaufgefordert auf das Feuer zu. »Draußen ist mein Pferd«, fügte er hinzu.
Der Wirt nickte mit finsterem Blick.
»Ich werde mich darum kümmern, Bruder. Deinem Akzent nach bist du wohl ein Sachse.«
»So ist es. Ich bin zur Abtei von Colman unterwegs.«
Der Wirt zuckte mit den Schultern. »Natürlich. Hier ist auch keine andere religiöse Gemeinschaft in der Nähe. Wenn du die Straße nach Süden weiterreitest, durch die Berge, dann über die Ebene dahinter und an der Gebirgskette zu deiner Rechten vorbei, wirst du genau zur Abtei gelangen. Sie befindet sich am vorderen Ende einer langen, schmalen Bucht. Es ist ein leichter Ritt. Wenn du hier nach Sonnenaufgang aufbrichst, wirst du vor Mittag da sein.«
Der Wirt drehte sich zur Tür um, während seine Frau Eadulf Essen und Trinken anbot. Eadulf machte es sich auf einem Stuhl vor dem Feuer bequem.
»Wie heißt der Ort hier?« erkundigte er sich.
Die Frau blickte ihn lächelnd an. Sie schien immer zu lächeln.
»Wir nennen den Ort Gasthof am Berg der Festungen.«
»Cnoc an gCaiseal?« meinte Eadulf. »Hat der Name eine Bedeutung?«
Die Wirtsfrau goß ihm einen Becher corma ein.
»In den Bergen über uns gibt es viele alte Festungen, die in grauer Vorzeit genutzt wurden.«
»Wie heißt das Gebirge?« »Sléibhte Ghleann an Ridire.«
Eadulf runzelte die Stirn. »Gebirge des Tals der Krieger?« wiederholte er.
»In alten Zeiten kämpften in diesem Gebirge die Götter und Krieger gegeneinander«, erklärte sie ernst.
Eadulf hatte keine Zeit für weitere Legenden.
»Gibt es viele Reisende, die hier vorbeikommen?«
»Eine ganze Reihe, Bruder.«
»Vor einer Woche, kam da ein Kräutersammler mit seiner Frau und zwei kleinen Kindern in einem Karren vorbei?«
Da trat ihr Mann wieder in die Gaststube. Mißtrauisch beäugte er Eadulf.
»Warum willst du das wissen?« fragte er abwehrend.
Eadulf lächelte ruhig. »Sie sind vor einigen Tagen durch Cashel gekommen, ich muß sie unbedingt einholen.«
»Wie meine Frau schon sagt, hier reisen viele Leute durch, wir können uns nicht an alle erinnern.«
Es machte wenig Sinn, eine Unterhaltung fortzusetzen, die nicht erwünscht war.
»Egal«, sagte Eadulf und ließ es dabei bewenden. »Ich hoffe, ihr habt ein Bett für die Nacht für mich und könnt euch um mein Pferd kümmern.«
»Dein Pferd ist schon im Stall, mein Sohn reibt es gerade trocken und wird es dann füttern. Ich habe deine Satteltasche geholt, Bruder.« Er stellte die Tasche neben Eadulf ab.
»Vielen Dank. Ich werde noch eine Schüssel von der hervorragenden Suppe deiner Frau nehmen. Und ganz gewiß auch noch einen Becher corma.«
Der Wirt holte das Bier, und seine Frau schenkte Suppe nach. Dabei flüsterte sie: »Die Leute, die du suchst, kamen hier vor einer Woche durch. Sie sagten mir, daß sie eine Weile in der Abtei von Colman bleiben wollten. Du wirst sie sicher dort antreffen.« Sie lächelte entschuldigend. »Mein Mann hat alte Ansichten und glaubt, daß die Angelegenheiten der Reisenden niemanden etwas angehen.«
Der Wirt trat mit dem corma zu ihnen und sah sie mißtrauisch an.
»Ich habe gerade die gute Suppe deiner Frau gelobt«, sagte Eadulf, »und versucht, ihr das Rezept abzuschwatzen.«
Der Wirt stellte ihm mit mürrischem Gesicht das Bier hin.
»Du bist sehr freundlich zu uns, Bruder. Doch wenn wir allen reisenden Fremden unsere Geheimnisse anvertrauen würden, wären wir bald unser Geschäft los.«
»Ich werde euch nicht weiter behelligen, nach dem Essen brauche ich nur noch ein Bett«, antwortete Eadulf ernst.
Das Warten machte Fidelma ganz ungeduldig. Sie konnte die Stimme ihres alten Mentors Brehon Morann hören: »Wer Geduld hat, wird sich durchsetzen, Fidelma.« Ungeduld war immer schon ihr größter Fehler gewesen, wenn es denn ein Fehler war. »Ungeduld«, hatte sie einmal dem alten Richter erklärt, »ist ein Zeichen dafür, daß wir uns nicht nur der bloßen Hoffnung auf die Lösung eines Problems verschrieben haben, sondern daß wir sie aktiv vorantreiben wollen. Ich finde es nicht tugendhaft, nur abzuwarten und zu sehen, was das Schicksal für uns bereithält. Ich neige eher dazu, selbst einzugreifen.«
Brehon Morann hatte betrübt den Kopf geschüttelt. »Lerne, geduldig zu sein, Fidelma, wenn Geduld vonnöten ist. Sei impulsiv und stürmisch, wenn das vonnöten ist. Lerne vor allem aber, zwischen beidem zu unterscheiden, denn es heißt, jene, die nicht begreifen, wann Geduld eine Tugend ist, sind nicht weise.«
Am Vormittag nach Eadulfs Verschwinden waren Fidelma tausend Gedanken durch den Kopf geschossen. Nach der Freilassung der Fürsten der Ui Fidgente war sie ruhelos und nervös durch die Burg gelaufen und hatte sich auf keine Tätigkeit konzentrieren können. Nichts konnte sie von den quälenden Sorgen ablenken, die sie bedrückten. Selbst Conchobar, der Apotheker, war noch nicht zurück, und Brehon Dathal wurde zunehmend unerträglicher. Gereizt schlich sie von einem Raum in den anderen, von einem Ort zum anderen. Als sie am nächsten Morgen aufwachte, wurde ihr klar, daß sie nicht einen Tag länger in untätiger Verzweiflung verbringen wollte.
Sie lief zur Kapelle und war erleichtert, daß sie dort niemanden antraf. Sie kauerte sich in eine dunkle Ek-ke, schloß die Augen und spürte die Stille geradezu, die sie umgab.
Sie versuchte sich zu konzentrieren, ihren Verstand von allen Gedanken zu befreien, indem sie in der Kunst der dercad Zuflucht suchte, einer Meditationsform, durch die unzählige Generationen von Asketen den Zustand des sitchäin erreicht hatten, den inneren Frieden, indem sie unwesentliche Gedanken verdrängten und alle Ablenkungen von sich wiesen. Sie versuchte sich zu entspannen und das Durcheinander in ihrem Kopf zu glätten. In Zeiten besonderer Belastung bemühte Fidelma oft die alte Kunst der dercad. Doch sie wurde inzwischen von vielen führenden Vertretern der Kirche in den fünf Königreichen abgelehnt. Selbst der heilige Patrick, ein Britannier, der einst eine führende Rolle bei der Einführung des neuen Glaubens spielte, hatte einige Formen der meditativen Selbsterleuchtung verboten. Doch obwohl man über die dercad die Stirn runzeln mochte, bisher war diese Art der Meditation nicht grundsätzlich geächtet worden.
Es war zwecklos. Immer, wenn sie Geduld benötigte, fruchteten die alten Techniken nicht. Das überraschte sie, denn sie hatte geglaubt, sie gut zu beherrschen.
Sie stand auf und verließ die Kapelle.
Unwillkürlich steuerte sie auf die Ställe zu. Niemand war da, dafür sprach sie ein Dankgebet. Sie wollte allein sein, um sich über ihre Ängste klarer zu werden. Sie entdeckte ihre schwarze Lieblingsstute und führte sie kurz darauf durch das Tor der Burganlage.
Die Wachleute standen verlegen da.
»Lady Fidelma«, wurde sie von einem begrüßt, »wir sind angewiesen, dich zu warnen, nicht allein auszureiten. Die Ui Fidgente könnten da draußen lauern.«
»Du hast deine Pflicht erfüllt«, erwiderte Fidelma kurz. »Sei unbesorgt, ich will nur mal raus.«