Ehe der Krieger etwas darauf erwidern konnte, hatte sie sich aufs Pferd geschwungen und preschte den Hang hinunter. Die Stadt, die um die Burg der Eog-hanacht gewachsen war, die Hauptstadt des großen Königreiches Muman, lag südlich des felsigen Kalksteinbergs, auf dem sich die Burg fast siebzig Meter über das umgebende flache Land erhob. Doch Fidelma ritt nicht auf die Stadt zu, sondern schlug den Weg ein, der um den Hügel und dann nördlich durch die Ebene führte. Als sie erst einmal außer Sichtweite der Burg war, gab sie dem Pferd die Sporen und ließ es einfach laufen.
Fidelma hatte reiten gelernt, als sie noch nicht richtig laufen konnte. Sie liebte das Gefühl, sich mit einem Pferd eins zu fühlen und mit ihm dahinzujagen. Sie lehnte sich nach vorn, ganz nah an den Hals der Stute, rief ihr ermunternde Worte zu, während sie vorwärtspreschte. Sie spürte die Freude der Stute, daß sie so frei und ungestüm wie der Wind vorwärtsfliegen konnte.
Erst als sie den Schweiß auf dem Hals des Pferdes bemerkte und sein leicht rasselndes Geräusch beim Atmen vernahm, griff sie nach den Zügeln, um das Tempo zu drosseln und in einen Trab zu fallen, ganz vorsichtig und langsam, denn wenn sie plötzlich anhielt, würde das dem Pferd schaden. An der Stelle, wo sich die Flüsse Suir und Clodaigh vereinten - letzterer rauschte von der entfernten Bergspitze des Cnoc an Loig herunter -, blieb sie schließlich stehen. Sie schaute zur Sonne hoch und ihr fiel auf, daß es schon Nachmittag war und ihr Ausritt sie viele Kilometer nach Norden geführt hatte. Erstaunt stellte sie fest, daß sie sogar so weit entfernt war, daß sie vor Einbruch der Dunkelheit nicht wieder in der Burg sein würde. Ihr Pferd war von dem anstrengenden Galopp recht erschöpft.
Unentschlossen saß sie im Sattel. Ihr Bruder besaß ein paar Kilometer südöstlich von hier eine Jagdhütte. Sie befand sich in einem Tal, das Quell vom Eichenwald hieß, und stand neben einem kleinen Bach. Dort konnte sie sich vor ihrem Rückritt nach Cashel zumindest stärken. Die Hütte diente auch als Unterkunft für die Gäste des Königs. Es gab keinen Grund, ein so gutes Pferd wie ihre Stute zu ruinieren und weiterzureiten. Ihr Entschluß stimmte sie froh.
Sie beugte sich vor und klopfte dem Pferd aufmunternd den Hals. Dann wandte sie es in die Richtung zur Jagdhütte.
Der Ritt war angenehm. Die große Ebene nördlich von Cashel erstreckte sich, so weit das Auge von dem großen Burgfelsen aus blicken konnte. Vorsichtig nahm sie den Weg leicht östlich durch den Wald. Ihres Wissens nach mußte er sie direkt zu ihrem Ziel bringen.
Da sie nun langsamer ritt und sich nicht mehr auf den Galopp konzentrieren mußte, kam ihr sofort wieder Eadulf in den Sinn. Sie fühlte sich schuldig wegen ihres Verhaltens und war höchst beunruhigt, was Bischof Petrans Tod betraf. Und warum war Gorman nach Westen unterwegs? Sie war sicher, daß er hinter Eadulf her war - doch warum? Glaubte Gorman etwa, daß Eadulf schuldig war? Oder hatte er Gorman befohlen, ihm zu folgen? Und dann war da noch Gormans Beziehung zu Della. Er behauptete, Sarait geliebt zu haben, aber er schien einen sehr vertrauten Umgang mit Della zu haben, dabei war sie bestimmt doppelt so alt wie er. Verwirrt schüttelte Fidelma den Kopf.
Am Ende lief alles auf ihre Haltung zu Eadulf hinaus. Warum hatte sie sich ihm nicht ganz anvertraut und nicht wie früher alles mit ihm besprochen? Woher rührte der ständige Hader mit ihm? Tief in ihrem Inneren wußte sie, daß sie viele Schwächen hatte - sie wollte nichts mit anderen teilen, schon gar nicht vertrauliche Dinge. Sie wollte alles allein bewältigen, ohne sich mit anderen darüber zu beraten. Es war nicht nur Eadulf, den sie nicht ins Vertrauen zog. Ihr Leben verlief einfach mehr selbstbestimmt.
Sie mochte es auch nicht, Gefühle zu zeigen. Damals, als sie studiert und ihre Leidenschaft offenbart hatte, war sie sehr verletzt worden. Deshalb hielt sie sich bei Eadulf so zurück, zumindest sagte sie sich das. Es gab Momente, in denen sie sich zärtlich zu ihm hingezogen fühlte. Aber dann gab ein Wort das andere, und auf einmal brach ihre ganze Verbitterung aus ihr hervor. Seine Reaktion darauf erzürnte sie oft so, daß sie sich kaum mehr beherrschen konnte. Stimmte etwas nicht mit ihr? Oder verstanden sie sich nur nicht? Oder lag es einfach daran, daß Eadulf Ausländer war? Er wollte in seine Heimat zurückkehren, wo er ein gewisses Ansehen genoß, und sie wollte in ihrem Land bleiben, wo sie eine hohe Stellung innehatte und ihrer liebsten Beschäftigung nachgehen konnte -der Durchsetzung von Recht und Ordnung. Wenn es einen Kompromiß geben könnte, sie könnte ihn nicht eingehen. Eine Reise nach Rom, eine Reise in die sächsischen Königreiche, das war genug für sie gewesen. Sie würde nie woanders als in Muman leben können. Das war ihre Heimat. Sie könnte keine Zugeständnisse machen, würde Eadulf jemals welche machen? Er würde sicher meinen, das käme seiner Unterwerfung gleich.
Hätten sie jemals eine Zukunft als Mann und Frau?
In diesem Augenblick hatte sie das Gefühl, daß die Asketen recht hatten. Mönche und Nonnen sollten nicht heiraten, sondern ihr Leben im Zölibat verbringen. Wieder mußte sie daran denken, daß sich das Ende ihrer Probeehe näherte. Wenn sie vor dem Gesetz ihr Gelübde nicht erneuerten, könnten sie und Eadulf erklären, daß sie nicht weiter zusammenleben wollten, und dann ihrer Wege gehen.
Da geschah es. Ganz ohne Vorwarnung, und sie verfluchte sich dafür, nur einen Moment nicht wachsam gewesen zu sein.
Plötzlich versperrten ihr zwei Krieger zu Pferde den Weg. Sie hörte ein Geräusch hinter sich und wandte sich um. Sie entdeckte ein Dutzend oder mehr Krieger zusammengedrängt auf dem Weg. Sie mußte nicht lange auf das Banner und die Waffen schauen, um zu wissen, daß es sich um Ui Fidgente handelte.
Sie drehte sich wieder um und erblickte ihren Anführer.
Es war ein hochgewachsener, muskulöser Mann mit dichtem blondem Haar, grauen Augen und einer blassen Narbe über der linken Wange.
Überrascht riß Fidelma die Augen auf.
»Conri!«
Conri, Kriegsfürst der Ui Fidgente, lächelte sie selbstgefällig an.
Als Eadulf aufwachte, war ein strahlender, aber eisiger Tag angebrochen. Rauhreif bedeckte den Boden, und nur ein paar dünne Wolken standen hoch oben am blauen Himmel. Kein Lüftchen wehte. In aller Frühe brach Eadulf vom Gasthof auf und ritt durch das Tal. Nach wenigen Stunden bemerkte er in der Luft den Salzgeruch des Meeres. Richtung Südwesten konnte er sogar schon einen kleinen schmalen Streifen blauen Wassers ausmachen.
Der Weg war nicht beschwerlich, und schon bald entdeckte er an der Flußmündung in einer Bucht die grauen Gebäude einer Klosteranlage. Sie war von mehreren Häusern umgeben, einer kleinen Siedlung, die sich auf beiden Uferseiten gebildet hatte. Richtung Nordwesten zeichneten sich ein Vorgebirge und dahinter eine höhere imposante Bergkette ab.
Er ritt auf die Anlage zu. Vor den Mauern der Abtei lag eine breite Grünfläche. Als er eine Art Planwagen sah, der sich ein Stück entfernt von der kleinen Siedlung befand, schlug sein Herz rascher. Zwei Pferde grasten in der Nähe. Neben dem Wagen flackerte ein kleines Feuer. Ein Mann rührte etwas in einem Kessel um, der auf einem Dreifuß über dem Feuer stand. Auf den Stufen des Wagens saß eine Frau, die ein Baby an ihrer üppigen Brust nährte. Unter einer Plane war ein Tisch aufgebaut, auf dem verschiedene Kräuter und Pflanzen ausgebreitet waren. An den Pfosten hingen Pflanzen zum Trocknen. Hier bot ein Kräutersammler seine Ware feil. Eadulf wollte seinem Glück kaum trauen. Endlich war er auf jene Leute gestoßen, die er suchte. Er lenkte sein Pferd zu ihnen und stieg ab. Der Mann richtete sich auf. Er war im mittleren Alter und hatte ein schmales, dunkles Gesicht. Er lächelte, als er Eadulfs Kutte sah.
»Gott sei mit dir, Bruder.«
»Jesus, Maria und Joseph mögen dich leiten«, erwiderte Eadulf ernst. »Man nennt mich Eadulf.«
Er beobachtete den Mann genau, um festzustellen, ob er durch irgendein Anzeichen verraten würde, daß ihm sein Name etwas sagte, doch dem schien nicht so zu sein. Eadulf wurde ans Feuer gewinkt.