Fidelma konnte nicht glauben, was er da sagte.
»Aber ... aber es ist kein Trick. Mein Sohn wurde wirklich ...«
Cuirgi fiel ihr ins Wort.
»Warum bist du uns dann gefolgt? Wir haben absichtlich einen anderen Weg gewählt, um nicht in einen Hinterhalt zu geraten. Wir dachten, das wäre hier ein sicheres Versteck, bis die Lage wieder günstiger ist ... Aber du mußt uns dicht gefolgt sein. Wer ist noch bei dir?«
Fidelma schüttelte bestürzt den Kopf.
»Ich bin ganz zufällig hier. Ich bin euch keineswegs gefolgt«, widersprach sie heftig. »Und das Schreiben ist echt. Wenn ihr nicht ins Land der Ui Fidgente zurückkehrt, werden eure Verbündeten meinen Sohn umbringen.«
»Hältst du uns für Narren? Wenn es wirklich um so einen Austausch ginge, hätte man uns irgendwie benachrichtigt. Es wäre ganz leicht gewesen, eine Botschaft zu uns ins Gefängnis zu schmuggeln. Das hier ist irgendein Trick, um uns fortzulocken und umzubringen.«
»Aber, ich sage euch ganz ehrlich ...« Sie schwieg auf einmal. Steckte etwa jemand anderes hinter dem Ganzen? Conri hatte gesagt, er schwöre im Namen der Ui Fidgente, daß dort von einer Kindesentführung nichts bekannt sei.
Cuirgi warf seinen Gefährten einen triumphierenden Blick zu.
»Dachte ich’s mir doch. Ihr Schweigen sagt alles. Crond, überprüfe die Umgebung genau und stelle fest, ob diese Eoghanacht hier von jemandem begleitet wurde. Cuan, du mußt mir helfen, sie festzubinden. Mit ihr als Gefangener können wir sicher in unser Land zurückkehren.«
»Aber ...«, protestierte Fidelma.
Cuirgi holte plötzlich aus und schlug ihr auf die Wange. Es war ein harter, schmerzender Schlag.
»Schweig endlich! Kein Wort mehr!«
Fidelma taumelte zurück, und ehe sie begriff, was geschah, hatte ihr Cuan fachmännisch mit einem Strick die Hände zusammengebunden. Er zog sie aus dem Stall zum Haupthaus.
»Leg sie oben auf den Stufen ab und kümmere dich drum, daß sie ordentlich gefesselt ist«, rief Cuirgi.
»Und was, wenn sie nicht allein hier ist?« fragte Cuan, als er sie durch den Hauptraum der Hütte schleifte.
»Dann können sie wählen, ob sie sich zurückziehen und uns unbehelligt weiterreiten lassen oder mit einer Leiche vorliebnehmen wollen.« Cuirgi lachte trocken. »Ich glaube, selbst Colgu würde die richtige Entscheidung treffen.«
»Hört mich an. Ihr macht einen Fehler ...«, rief Fidelma noch einmal, doch da verschloß ihr eine grobe Hand den Mund. Cuirgi sah mit einem zufriedenen Lächeln zu.
»Kneble sie, damit sie nicht um Hilfe schreien kann.«
Nun wurde sie die Treppe zum oberen Stockwerk hochgezerrt und in einen der Schlafräume gestoßen. Welche Ironie des Schicksals, dachte sie, daß sie sich in genau dem Raum wiederfand, in dem sie schon als Kind geschlafen und in dem sie sich immer so sicher und beschützt gefühlt hatte. Nun war sie hier gefangen und hilflos.
Cuan war ziemlich erfahren darin, sein Opfer so zu fesseln, daß es völlig wehrlos war. Er band ihr jetzt die Hände auf dem Rücken zusammen und schlang ihr einen Strick um die Knöchel. Dann riß er ein Stück Leinen vom Kopfkissen ab und knebelte sie.
»Na, ist das angenehm?« höhnte er. Dann stieß er sie auf das Holzbett. Sie blickte ihn kalt an.
Was war, wenn Cuirgi und Conri unrecht hatten? Was war, wenn ein ganz anderer aus ihrem Volk die Fürsten freibekommen wollte und keiner davon Kenntnis hatte? Würde ihr Sohn geopfert werden, nur weil niemand Bescheid wußte und die Parteien einander mißtrauten?
Fidelma wartete, bis Cuan nach unten ging, dann prüfte sie die Fesseln. Sie saßen sehr fest. Weder an den Füßen noch an den Handgelenken hatte sie Spielraum. Enttäuscht ließ sie sich auf dem Bett nach hinten sinken und schloß die Augen. Ihr Verstand arbeitete angestrengt an einem Fluchtplan.
Etwas später hörte sie von unten jemanden rufen.
»Crond kommt zurück!«
Sie vernahm, wie draußen ein Pferd anhielt und erkannte Cuirgis Stimme.
»Was gibt’s Neues?«
»Von niemandem eine Spur«, erwiderte derjenige, bei dem es sich um Crond handeln mußte. »Ich bin den Berg da drüben hoch, von dort kann man alle Bewegungen in diesem Tal überschauen. Nichts. Man könnte mir dafür einen Eid abnehmen, daß sie allein gekommen ist.«
»Dir wird noch was ganz anderes abgenommen werden, wenn das nicht wahr ist«, rief Cuirgi höhnisch.
»Dann sollte ich lieber keinen Fehler machen«, ent-gegnete der andere vollkommen uneingeschüchtert. »Im Moment sind wir sicher. Vielleicht hat die Frau ja die Wahrheit gesagt.«
»Dann hatte sie ja ziemliches Pech, wenn es so sein sollte«, ließ sich nun der Dritte vernehmen. Das war Cuan, der sie gefesselt hatte.
»Gut.« Cuirgis bestimmender Ton verriet, daß er hier befahl. »Wenn wir davon ausgehen, daß dieses Weibsbild rein zufällig hier ist, haben wir Glück. Wir müssen nur eine Weile warten, ehe wir weiter Richtung Heimat reiten.«
»Doch was ist, wenn gewisse Anhänger von uns wirklich das Kind dieser Frau entführt haben?« Crond stellte die Frage, die Fidelma bewegte.
Cuirgi lachte. »Du glaubst dieses Märchen? Davon hätten wir längst erfahren.«
»Ich gestehe, daß eine Menge für deine Sicht der Dinge spricht, doch ... Doch was ist, wenn es wirklich stimmt?«
»Was soll schon sein? Dann gäbe es einen Eogha-nacht weniger in Muman, und wir wären immer noch frei.«
»Wenn das wahr wäre, Cuirgi, und das Kind stirbt, dann sind uns morgen alle Krieger Cashels auf den Fersen und jeder einzelne wird danach lechzen, daß unser Blut an seinem Schwert klebt«, erklärte Crond.
»Macht dir das etwa Angst?« fragte Cuirgi zynisch. »Wir haben schon vorher gegen die Eoghanacht gekämpft.«
»Ich bin ein Ui Fidgente und von dem gleichen stolzen Stammbaum wie du, Cuirgi!« warf ihm Crond wütend an den Kopf. »Ich bin darauf eingestellt, mein Blut unserer Sache zu opfern. Aber ich bin nicht darauf aus, es sinnlos zu vergeuden und gejagt und umgebracht zu werden aus Rache für ein totes Kind. Würde es dir gefallen, so in Erinnerung zu bleiben?«
»Er hat recht, Cuirgi«, äußerte Cuan. »Während wir hier warten, wird vielleicht das ganze Land gegen uns mobilisiert, und unsere Heimkehr wird unmöglich.«
Der ältere Fürst brach in Gelächter aus.
»Ihr vergeßt, daß wir Colgus Schwester bei uns haben, die uns eine sichere Heimkehr garantiert. Und überhaupt, ich habe es euch doch schon erklärt . Falls es ein solches Komplott gibt, hätten unsere Freunde uns irgendwie informiert. Dieser alte Gefängniswärter hat doch immer Bestechungsgeld angenommen und Botschaften rein- und rausgeschmuggelt. Wir hätten davon schon erfahren. Das hier ist eine Falle der Eoghanacht. Da bin ich mir ganz sicher.«
Als Fidelma sie so hörte, stöhnte sie innerlich. Sie mußte zugeben, daß Cuirgi da ein gutes Argument vorgebracht hatte. Wenn jemand diese Entführung auf so lange Sicht sorgfältig geplant hatte, hätte er sicher die Beteiligten in Kenntnis gesetzt. Doch wenn es gar nicht darum ging, die drei Ui Fidgente freizubekommen, was sollte das Ganze? Wer steckte dann dahinter?
Die drei Männer zogen sich in den unteren Raum zurück, Fidelma konnte ihrer Unterhaltung nicht mehr folgen. Sie merkte, daß es dunkel wurde. Es war schon spät.
Sie fragte sich, was ihr Bruder wohl tat, wo weder sie in die Burg zurückkehrte, noch eine Nachricht von ihr eintraf. Würde er erraten, daß sie sich in der Jagdhütte aufhielt? Sie versuchte, sich bequemer hinzulegen. Der Knebel würgte sie.
Erschöpft mußte sie eingenickt sein, denn das nächste, was sie bemerkte, war, daß im Raum eine Öllampe brannte. Jemand nahm ihr den Knebel ab. Sie hustete und rang nach Luft. Kräftige Hände griffen ihr unter die Arme und richteten sie auf, so daß ihr Rücken gegen das hölzerne Kopfteil des Bettes lehnte.