Gerard sagte zynisch: »Keine Sorge, meine Liebe! Die Indizien sind aller Wahrscheinlichkeit nach ohne Beweiskraft. Sie werden sehen, Ihre Freunde, die Boyntons, kommen ungestraft davon!«
»Das will ich ja gar nicht«, sagte Sarah hitzig.
Er schüttelte den Kopf. »Sie sind unlogisch!«
»Sie waren doch derjenige«, verkündete Sarah, »der sich damals in Jerusalem des Langen und Breiten darüber ausließ, dass man sich nicht einmischen soll! Und was tun Sie?«
»Ich habe mich nicht eingemischt. Ich habe lediglich gesagt, was ich weiß!«
»Und ich sage, dass Sie es nicht wissen. O Gott, jetzt geht das schon wieder los! Wir argumentieren mal wieder im Kreis.«
Gerard sagte sanft: »Es tut mir Leid, Miss King.«
Sarah fuhr mit leiser Stimme fort: »Im Grunde sind sie gar nicht frei — keiner von ihnen! Denn sie ist immer noch da! Selbst über den Tod hinaus lässt sie sie nicht los. Sie hatte etwas — etwas Grauenerregendes an sich — und obwohl sie tot ist, ist sie noch genauso Grauen erregend wie zu Lebzeiten. Ich glaube — ja, ich glaube tatsächlich, dass sie das alles richtig genießt!«
Sie ballte die Hände zu Fäusten. Dann sagte sie in völlig anderem Ton, mit ganz normaler Stimme: »Da kommt der kleine Mann den Hügel herauf.«
Dr. Gerard drehte sich um. »Ah! Ich glaube, er ist auf der Suche nach uns.«
»Ist er eigentlich so töricht, wie er aussieht?«, fragte Sarah.
Dr. Gerard sagte ernst: »Der Mann ist alles andere als ein Tor.«
»Das habe ich befürchtet«, sagte Sarah King.
Mit düsteren Blicken verfolgte sie Hercule Poirots Weg bergauf.
Als er bei ihnen ankam, stieß er ein lautes »Uff« aus und wischte sich die Stirn ab. Dann blickte er betrübt hinunter auf seine Lackschuhe.
»Helas!«, sagte er. »Dieses steinige Land! Meine armen Schuhe.«
»Sie können sich ja Lady Westholmes Schuhputzutensilien ausleihen«, sagte Sarah unfreundlich. »Und ihr Staubtuch. Die Dame reist doch mit einem kompletten Haushalt durch die Gegend.«
»Das wird aber nicht die Kratzer entfernen, Mademoiselle.« Poirot schüttelte betrübt den Kopf.
»Wahrscheinlich nicht. Warum in aller Welt tragen Sie in so einem Land aber auch solche Schuhe?«
Poirot neigte den Kopf leicht zur Seite. »Ich lege Wert darauf, stets soigne zu sein«, sagte er.
»Darauf würde ich in der Wüste lieber verzichten«, sagte Sarah.
»Frauen sehen in der Wüste nicht sehr vorteilhaft aus«, sagte Dr. Gerard verträumt. »Bei Miss King hier ist das anders — sie ist immer adrett und gut gekleidet. Aber diese Lady Westholme mit ihren dicken Jacken und Röcken und diesen entsetzlich unkleidsamen Reithosen und Reitstiefeln — quelle horreur de femme! Und die arme Miss Pierce — ihre Kleider schlaff wie welke Kohlblätter, und all diese Ketten, die ständig klimpern! Sogar die junge Mrs. Boynton, die eine gut aussehende Frau ist, ist nicht das, was man chic nennt. Ihre Garderobe ist sehr uninteressant. «
Sarah sagte ungehalten: »Ich glaube kaum, dass Monsieur Poirot hier heraufgeklettert ist, um sich über Damenbekleidung zu unterhalten!«
»Das ist wahr«, sagte Poirot. »Ich kam, um Dr. Gerard zu konsultieren. Seine Meinung wird für mich sehr nützlich sein. Ihre natürlich auch, Mademoiselle — Sie sind jung und in der Psychologie auf dem neuesten Stand. Sehen Sie, ich möchte alles wissen, was Sie mir über Mrs. Boynton erzählen können.«
»Wissen Sie das nicht längst in- und auswendig?«, fragte Sarah.
»Nein. Ich habe das Gefühl — mehr als nur das Gefühl —, die Überzeugung, dass die psychische Ausstattung von Mrs. Boynton in diesem Fall sehr wichtig ist. Menschen wie sie sind Dr. Gerard zweifellos vertraut.«
»Aus meiner Sicht war sie in der Tat ein interessantes Studienobjekt«, sagte der Arzt.
»Erzählen Sie mir mehr.«
Dr. Gerard war durchaus nicht abgeneigt. Er schilderte sein eigenes Interesse an der Familie Boynton, seine Unterhaltung mit Jefferson Cope und dass dieser die Situation völlig falsch einschätzte.
»Er reagiert also gefühlsmäßig«, sagte Poirot.
»Oh, unbedingt! Er hat Ideale — die im Grunde auf einer tiefen instinktiven Trägheit basieren. Von allen Menschen immer nur das Beste annehmen und die Welt als einen angenehmen Ort betrachten — das ist zweifellos der leichteste Weg im Leben! Jefferson Cope hat folglich überhaupt keine Vorstellung davon, wie die Menschen wirklich sind.«
»Das kann manchmal gefährlich sein«, sagte Poirot.
Dr. Gerard fuhr fort: »Er beharrte darauf, das, was ich >das Boynton’sche Problem< nennen möchte, als einen Fall von fehlgeleiteter Fürsorge zu betrachten. Von dem unterschwelligen Hass, der Auflehnung, der Unterdrückung und dem seelischen Schmerz hatte er so gut wie keine Ahnung.«
»Das ist stupid, so etwas«, bemerkte Poirot.
»Gleichviel«, fuhr Dr. Gerard fort, »selbst der absichtlich begriffsstutzigste sentimentale Optimist kann nicht vollkommen blind sein. Ich glaube, dass Mr. Jefferson Cope auf der Reise nach Petra die Augen geöffnet wurden.«
Und er schilderte die Unterhaltung, die er am Morgen des Tages, an dem Mrs. Boynton starb, mit dem Amerikaner gehabt hatte.
»Eine interessante Geschichte, diese Sache mit dem Dienstmädchen«, sagte Poirot nachdenklich. »Sie wirft Licht auf die Methoden der alten Frau.«
Gerard sagte: »Das war überhaupt ein sehr denkwürdiger Morgen! Sie waren noch nie in Petra, Monsieur Poirot. Wenn Sie hinfahren, müssen Sie unbedingt zur Opferstätte hinaufsteigen. Sie hat eine — wie soll ich sagen — eine besondere Atmosphäre!« Er beschrieb detailliert, was sie dort erlebt hatten, und fügte ergänzend hinzu: »Mademoiselle saß wie eine junge Richterin dort oben und sprach davon, einen zu opfern, um viele zu retten. Erinnern Sie sich, Miss King?«
Sarah erschauerte. »Hören Sie bloß auf! Ich will nichts mehr von dem Tag hören.«
»Gewiss, gewiss«, sagte Poirot. »Sprechen wir lieber über Ereignisse, die weiter zurückliegen. Mich, Dr. Gerard, interessiert Ihre Beschreibung der Mentalität von Mrs. Boynton. Sehen Sie, ich verstehe nicht recht, warum diese Frau, die ihre Familie vollkommen unterjocht hat, warum sie diese Auslandsreise unternimmt, wo die Gefahr besteht, dass es zu Kontakten mit Außenstehenden kommt und dass ihre Autorität geschwächt wird.«
Dr. Gerard beugte sich aufgeregt vor.
»Aber genau das ist der springende Punkt, mon vieux! Alte Damen sind überall auf der Welt gleich. Sie fangen an, sich zu langweilen! Wenn sie gerne Patiencen legen, haben sie irgendwann die Patience satt, die sie zu gut kennen. Sie wollen eine neue Patience lernen. Und genau so ist es bei einer alten Dame, deren Zeitvertreib — so unglaublich das klingen mag — es ist, andere Menschen zu beherrschen und zu quälen! Mrs. Boynton war gewissermaßen une dompteuse — sie hatte ihre Tiger gezähmt. Vielleicht war es noch ein wenig aufregend, als die Kinder heranwuchsen. Lennox’ Heirat mit Nadine war ein Abenteuer. Aber dann war plötzlich alles schal. Lennox ist so in Melancholie versunken, dass es praktisch unmöglich ist, ihn zu verletzen oder zu peinigen. Raymond und Carol lassen keinerlei Anzeichen von Rebellion erkennen. Ginevra — ah, la pauvre Ginevra —, sie bietet, aus der Sicht ihrer Mutter, am allerwenigsten Zerstreuung. Denn Ginevra hat einen Ausweg gefunden! Sie flüchtet aus der Realität in eine Traumwelt. Je mehr ihre Mutter sie reizt, desto leichter fällt es ihr, sich das prickelnde Gefühl zu verschaffen, eine verfolgte Heldin zu sein! Aus Mrs. Boyntons Sicht ist das alles sterbenslangweilig. Sie muss daher, genau wie Alexander, neue Welten erobern. Und so plant sie eine Reise ins Ausland. Weil dort die Gefahr besteht, dass ihre gezähmten Bestien rebellieren, weil es dort Gelegenheiten geben wird, ihnen ganz neue Qualen zuzufügen! Es klingt absurd, ich weiß, aber so war es! Sie wollte einen neuen Nervenkitzel ! «