»Nein!«, rief Sarah entsetzt.
»Ihnen erscheint das unmöglich, aber bestimmte grundlegende Wesensmerkmale sind die gleichen. Beide besitzen von Natur aus ein starkes Geltungsbedürfnis; beide wollen mit ihrer Persönlichkeit beeindrucken! Das arme Kind wurde auf Schritt und Tritt eingeengt und unterdrückt; man gab ihr keine Möglichkeit, ihren ehrgeizigen Ambitionen nachzugehen, ihre Lebensfreude zu zeigen, ihre lebhafte schwärmerische Persönlichkeit auszudrücken.« Er lachte auf. »Nous allons changer tout ça!«
Dann machte er eine kleine Verbeugung und sagte: »Wenn Sie mich jetzt entschuldigen würden?«, und eilte dem jungen Mädchen den Hügel hinunter nach.
Sarah sagte: »Dr. Gerard ist mit Leib und Seele Arzt.«
»Das habe ich bemerkt«, sagte Poirot.
»Trotzdem«, sagte sie stirnrunzelnd, »finde ich es unerträglich, dass er sie mit dieser grässlichen alten Frau vergleicht — obwohl ich ja selbst einmal Mitleid mit Mrs. Boynton hatte.«
»Wann war das, Mademoiselle?«
»Damals in Jerusalem. Ich habe Ihnen davon erzählt. Ich hatte auf einmal das Gefühl, als ob ich alles missverstanden hätte. Kennen Sie dieses Gefühl, das einen manchmal überkommt, wenn man einen Moment lang alles aus einem anderen Blickwinkel sieht? Ich war richtig in Fahrt, bin zu ihr gegangen und habe mich total zum Narren gemacht!«
»O nein — das können Sie gar nicht!«
Wie immer, wenn sie an die Szene mit Mrs. Boynton denken musste, wurde Sarah puterrot.
»Ich fühlte mich richtiggehend erhaben, als ob ich eine Mission zu erfüllen hätte! Und als mich Lady Westholme dann später leicht schief ansah und sagte, sie hätte mich mit Mrs. Boynton sprechen sehen, dachte ich, dass sie vielleicht alles mit angehört hatte, und kam mir endgültig wie ein kompletter Idiot vor.«
Poirot fragte: »Was genau hat die alte Mrs. Boynton zu Ihnen gesagt? Können Sie sich an ihre genauen Worte erinnern?«
»Ich glaube schon. Sie haben nämlich einen ziemlichen Eindruck bei mir hinterlassen. >Ich vergesse nichts<, sagte sie. >Merken Sie sich das gut. Ich vergesse niemals etwas — keine Handlung, keinen Namen, kein Gesicht.<« Sarah erschauerte. »Sie sagte es so bösartig — und ohne mich dabei auch nur anzusehen. Mir ist — mir ist, als könnte ich sie jetzt noch hören.«
Poirot sagte freundlich: »Und das hat einen solchen Eindruck auf Sie gemacht?«
»Ja. Ich lasse mich nicht so leicht ins Bockshorn jagen — aber manchmal träume ich von ihr, wie sie genau diese Worte sagt, und sehe ihr böses, hämisches, triumphierendes Gesicht. Grässlich!« Ein Schauer überlief sie. Dann sagte sie plötzlich geradeheraus: »Monsieur Poirot, vielleicht sollte ich Sie das nicht fragen, aber sind Sie in dieser Angelegenheit zu einem Schluss gekommen? Haben Sie etwas Entscheidendes herausgefunden?«
»Ja.«
Er sah, wie ihre Lippen zitterten, als sie fragte: »Was?«
»Ich habe herausgefunden, mit wem Raymond Boynton an jenem Abend in Jerusalem sprach. Er sprach mit seiner Schwester Carol.«
»Mit Carol — natürlich!« Nach kurzem Schweigen fuhr sie fort: »Haben Sie ihm gesagt — haben Sie ihn gefragt — «
Es war zwecklos. Sie konnte nicht weitersprechen. Poirot sah sie ernst und mitfühlend an. Dann sagte er ruhig: »Ist das — so wichtig für Sie, Mademoiselle?«
»Wichtiger als alles!«, sagte Sarah. Sie straffte die Schultern. »Ich muss es einfach wissen.«
Poirot sagte ruhig: »Er versicherte mir, dass es ein hysterischer Ausbruch war — mehr nicht! Dass er und seine Schwester sehr aufgewühlt waren. Er sagte mir, dass die Idee, bei Tageslicht besehen, beiden phantastisch erschien.«
»Ich verstehe.«
Poirot sagte sanft: »Miss Sarah, wollen Sie mir nicht sagen, wovor Sie Angst haben?«
Sarah wandte ihm ihr blasses, verzweifeltes Gesicht zu.
»An dem Nachmittag — waren wir zusammen. Und als er ging, sagte er — dass er etwas unternehmen werde — jetzt gleich, solange er noch den Mut dazu habe. Ich dachte, dass er nur — dass er es ihr nur sagen wollte. Aber angenommen, er wollte.«
Ihre Stimme erstarb. Sie stand wie erstarrt da und rang nach Fassung.
Dreizehntes Kapitel
Nadine Boynton trat aus dem Hotel. Als sie unsicher zögerte, eilte ein wartender Mann herbei.
Mr. Jefferson Cope war unverzüglich an der Seite seiner Herzensdame. »Wollen wir diesen Weg nehmen? Ich glaube, es ist der angenehmste.«
Nadine willigte stumm ein.
So gingen sie dahin, und Mr. Cope redete. Die Worte kamen leicht, wenn auch etwas monoton über seine Lippen. Es steht nicht fest, ob er bemerkte, dass Nadine nicht zuhörte. Als sie auf den steinigen, mit Blumen bewachsenen Hügel abbogen, unterbrach sie ihn.
»Entschuldige, Jefferson. Ich muss mit dir reden.«
Ihr Gesicht war blass geworden.
»Gewiss, natürlich, Liebes. Ganz, wie du willst, aber bitte quäle dich nicht.«
Sie sagte: »Du bist viel klüger, als ich dachte. Du weißt bereits, was ich dir sagen will, nicht wahr?«
»Es ist nun einmal eine Tatsache«, sagte Mr. Cope, »dass gewisse Dinge alles verändern. Mir ist vollkommen klar, dass unter den gegenwärtigen Umständen bestimmte Entscheidungen noch einmal überdacht werden müssen.« Er seufzte. »Du musst tun, was du für richtig hältst, Nadine, und was dir dein Gefühl befiehlt.«
Ehrlich bewegt sagte sie: »Du bist so gut, Jefferson. So geduldig! Und ich habe dich so schlecht behandelt. Ich war richtiggehend gemein zu dir.«
»Jetzt hör mal zu, Nadine. Lass uns eines klarstellen. Ich habe immer gewusst, wo meine Grenzen liegen, was dich betrifft. Ich liebe dich und schätze dich, seit ich dich kenne. Ich will nur, dass du glücklich bist. Mehr habe ich nie gewollt. Mit ansehen zu müssen, dass du unglücklich bist, hat mich fast wahnsinnig gemacht. Und ich sage ganz offen, dass ich Lennox die Schuld daran gegeben habe. Ich hatte das Gefühl, dass er es nicht verdiente, dich zu behalten, wenn ihm dein Glück nicht ein klein wenig mehr bedeutete, als dies der Fall zu sein schien.«
Mr. Cope holte tief Luft und fuhr fort: »Aber ich gebe zu, dass ich, nachdem ich euch nach Petra begleitet hatte, den Eindruck gewann, dass es vielleicht doch nicht nur Lennox’ Schuld war, wie ich gedacht hatte. Er war nicht eigennützig, was dich betraf, sondern eher viel zu uneigennützig, was seine Mutter anging. Ich will über Tote ja nichts Schlechtes sagen, aber ich glaube, dass deine Schwiegermutter eine ungewöhnlich schwierige Frau war.«
»Ja, das kann man wohl sagen«, murmelte Nadine.
»Auf jeden Fall«, fuhr Mr. Cope fort, »bist du gestern zu mir gekommen und hast gesagt, dass du dich endgültig entschieden hättest, Lennox zu verlassen. Ich begrüßte deinen Entschluss. Das war doch kein Leben, was du da führtest. Und du warst ganz ehrlich zu mir. Du hast nicht so getan, als ob du mehr als nur Zuneigung für mich empfindest. Nun, mir genügte das. Alles, was ich wollte, war, für dich sorgen zu dürfen und dir das zu bieten, was du verdient hast. Ich muss zugeben, das war einer der glücklichsten Nachmittage in meinem Leben.«
»Es tut mir Leid!«, rief Nadine aus. »Es tut mir so Leid!«
»Dazu besteht kein Grund, weil ich schon die ganze Zeit das komische Gefühl hatte, dass alles nur ein Traum war. Ich spürte, dass ich damit rechnen musste, dass du es dir bis zum nächsten Morgen anders überlegt haben könntest. Nun, die Lage hat sich grundlegend geändert. Du und Lennox könnt jetzt euer eigenes Leben führen.«
Nadine sagte leise: »Ja. Ich kann Lennox nicht verlassen. Bitte verzeih mir.«
»Da gibt es ist nichts zu verzeihen«, erklärte Mr. Cope. »Du und ich werden einfach wieder gute alte Freunde sein und den bewussten Nachmittag vergessen.«