Nadine legte sanft die Hand auf seinen Arm. »Danke, lieber Jefferson. Ich muss jetzt zu Lennox.«
Sie drehte sich um und ging. Mr. Cope setzte seinen Weg allein fort.
Nadine fand Lennox im griechischrömischen Theater. Er saß ganz oben und war so in Gedanken versunken, dass er sie erst richtig bemerkte, als sie sich atemlos neben ihm niederließ.
»Lennox.«
»Nadine.« Er drehte sich halb zu ihr um.
»Wir hatten noch keine Gelegenheit, miteinander zu reden«, sagte sie. »Aber du weißt, dass ich dich nicht verlassen werde, oder?«
Ernst erwiderte er: »Hattest du das denn tatsächlich vor, Nadine?«
Sie nickte. »Ja. Ich hatte das Gefühl, dass mir nichts anderes übrig blieb. Ich hoffte, dass — dass du mich zurückhalten würdest. Der arme Jefferson! Ich war ja so gemein zu ihm.«
Lennox lachte plötzlich laut auf. »Nein, das ist nicht wahr. Ein Mensch, der so selbstlos ist wie Cope, muss Gelegenheit bekommen, seinem Edelmut freien Lauf zu lassen! Und du hattest Recht, Nadine. Als du mir sagtest, dass du mit ihm fortgehen willst, hast du mir den Schock meines Lebens versetzt! Weißt du, ich glaube allen Ernstes, dass ich in letzter Zeit auf dem besten Wege war, den Verstand zu verlieren. Warum zum Teufel habe ich meiner Mutter nicht ins Gesicht gelacht und bin mit dir fortgegangen, als du mich darum gebeten hast?«
»Weil du es nicht konntest, Liebster«, sagte sie sanft. »Weil es unmöglich war.«
Lennox sagte sinnend: »Mutter war schon ein verdammt merkwürdiger Mensch. Ich glaube, sie hatte uns alle irgendwie hypnotisiert.«
»So ist es.«
Lennox sann geraume Zeit nach. Dann sagte er: »Als du es mir an dem Nachmittag sagtest, war ich wie vor den Kopf geschlagen! Ich ging völlig benommen zurück, und dann ging mir plötzlich auf, was ich doch für ein verdammter Idiot gewesen bin! Und mir wurde klar, dass es nur eins gab, wenn ich dich nicht verlieren wollte.«
Er spürte, wie sie erstarrte. Seine Stimme wurde härter. »Ich ging hin und — «
»Sprich nicht weiter.«
Er sah sie rasch an. »Ich ging hin und — debattierte mit ihr.« Er sprach in völlig verändertem Ton — bedächtig und fast ausdruckslos. »Ich sagte ihr, dass ich zwischen ihr und dir wählen musste — und dass ich mich für dich entschieden hatte.«
Beide schwiegen.
Fast selbstbewusst fügte er hinzu: »Ja, genau das habe ich ihr gesagt.«
Vierzehntes Kapitel
Auf dem Rückweg begegnete Poirot zwei Personen. Die erste war Mr. Jefferson Cope.
»Monsieur Hercule Poirot? Mein Name ist Jefferson Cope.«
Die beiden Männer schüttelten sich in aller Form die Hand.
Mr. Cope, der sich Poirot anschloss, sagte im Weitergehen: »Ich habe erst jetzt erfahren, dass Sie quasi routinemäßig den Tod meiner alten Freundin Mrs. Boynton untersuchen. Eine böse Geschichte. Die alte Dame hätte nie und nimmer eine so beschwerliche Reise unternehmen dürfen, so viel steht fest. Aber sie war dickköpfig, Monsieur Poirot. Sie ließ sich von niemandem dreinreden. Sie war ein richtiger Haustyrann — hatte vermutlich zu lange immer ihren Willen durchgesetzt. Und was sie sagte, wurde ohne Widerrede gemacht. Ja, Sir, genau so war es.«
Mr. Cope schwieg eine Weile.
»Monsieur Poirot, ich wollte Ihnen eigentlich nur sagen, dass ich ein alter Freund der Familie bin. Klar, dass alle ziemlich durcheinander sind wegen dieser Geschichte und dass sie verständlicherweise nervös und gereizt sind. Wenn also irgendwelche Dinge zu erledigen sind — irgendwelche Formalitäten, Vorkehrungen für die Beisetzung, die Überführung der Leiche nach Jerusalem —, also da würde ich ihnen gerne so viel wie möglich abnehmen. Sagen Sie mir einfach Bescheid, wenn etwas zu tun ist.«
»Ich bin sicher, die Familie wird Ihr Angebot zu schätzen wissen«, sagte Poirot und fügte dann hinzu: »Soviel ich weiß, sind Sie ein besonderer Freund der jungen Mrs. Boynton.«
Mr. Jefferson Cope errötete ein klein wenig.
»Na ja, dazu gibt es nicht viel zu sagen, Monsieur Poirot. Wie ich höre, hatten Sie heute Vormittag eine Unterredung mit Mrs. Lennox Boynton, und sie hat Ihnen gegenüber bestimmt angedeutet, wie die Dinge zwischen uns stehen, aber das ist jetzt alles vorbei. Mrs. Boynton ist eine sehr feine Frau, und sie meint, dass es ihre vordringliche Pflicht ist, ihrem Mann angesichts dieses schmerzlichen Verlustes beizustehen.«
Er schwieg. Poirot quittierte seine Worte mit einem leichten Neigen des Kopfes und sagte dann: »Es ist der Wunsch von Colonel Carbury, einen exakten Bericht über den Nachmittag von Mrs. Boyntons Tod zu erhalten. Können Sie mir den Verlauf des bewussten Nachmittags schildern?«
»Aber gern! Nach dem Lunch und einer kurzen Ruhepause brachen wir zu einer zwanglosen Erkundungstour auf. Und zwar ohne diesen unmöglichen Dragoman. Der Mann dreht völlig durch, wenn er auf das Thema Juden kommt. In dieser Hinsicht ist er meiner Meinung nach nicht zurechnungsfähig. Wie gesagt, wir brachen auf. Und auf diesem Spaziergang kam es zu der Unterredung mit Nadine. Danach wollte sie mit ihrem Mann allein sein, um die Sache mit ihm zu besprechen. Ich ging allein weiter, arbeitete mich in einem Bogen zum Camp zurück. Etwa auf halbem Wege traf ich auf die beiden englischen Ladys, die am Vormittag mit uns auf der Exkursion gewesen waren — eine von ihnen ist, glaube ich, eine englische Adelige, stimmt’s?«
Poirot sagte, dass dies der Fall sei.
»Ja, eine feine Frau, mit scharfem Verstand und sehr gebildet. Die andere schien mir ein bisschen schwach auf der Brust zu sein — sie war halb tot vor Erschöpfung. Für eine ältere Dame war die Exkursion am Vormittag sehr anstrengend gewesen, vor allem wenn sie die Höhe nicht verträgt. Na ja, wie gesagt, ich traf also die beiden Damen und konnte ihnen gewisse Auskünfte geben. Wir gingen zusammen ein bisschen herum und kamen gegen sechs ins Camp zurück. Lady Westholme bestand darauf, Tee zu trinken, und ich hatte das Vergnügen, eine Tasse mittrinken zu dürfen — der Tee war ziemlich dünn, schmeckte aber ganz interessant. Dann deckten die Boys den Tisch fürs Abendessen, und einer sollte die alte Dame holen, die aber, wie er feststellte, tot in ihrem Stuhl saß.«
»Sahen Sie sie auf dem Rückweg ins Camp?«
»Ich sah, dass sie dort saß — nachmittags und abends war das ihr üblicher Platz, aber ich schenkte ihr keine besondere Aufmerksamkeit. Ich erläuterte Lady Westholme nämlich gerade die Gründe unseres Konjunkturrückgangs. Außerdem musste ich ein Auge auf Miss Pierce haben. Sie war so müde, dass sie ständig mit dem Fuß umknickte.«
»Vielen Dank, Mr. Cope. Darf ich so indiskret sein und fragen, ob Mrs. Boynton möglicherweise ein großes Vermögen hinterlassen hat?«
»Ein ganz beträchtliches sogar. Das heißt, genau genommen ist es gar nicht ihres. Sie hatte nur das Nutzungsrecht auf Lebenszeit, und nach ihrem Tod wird es unter den Kindern des verstorbenen Eimer Boynton aufgeteilt. Ja, sie werden jetzt alle ziemlich wohlhabend sein.«
»Geld«, murmelte Poirot, »spielt immer eine große Rolle. Wie viele Verbrechen wurden schon wegen Geld begangen.«
Mr. Cope sah ihn leicht bestürzt an.
»Da mögen Sie wohl Recht haben«, gab er zu.
Poirot lächelte liebenswürdig und sagte: »Aber es gibt so viele Motive für einen Mord, nicht wahr? Ich danke Ihnen, Mr. Cope, für Ihre freundliche Kooperation.«
»Gern geschehen, keine Frage«, sagte Mr. Cope. »Ist das Miss King, die dort oben sitzt? Ich glaube, ich werde mal zu ihr gehen und mich ein bisschen mit ihr unterhalten. «
Poirot setzte seinen Weg den Hügel hinunter fort.
Nach einer Weile begegnete er Miss Pierce, die ihm entgegengeflattert kam und ihn atemlos begrüßte: »Oh, Monsieur Poirot, ich bin ja so froh, Sie zu treffen. Ich habe mich mit diesem höchst sonderbaren jungen Mädchen unterhalten — der jüngsten Tochter, wissen Sie. Sie hat ja so merkwürdige Sachen gesagt — von Feinden und von einem Scheich, der sie entführen will, und dass sie überall von Spionen umgeben ist. Wirklich, es klang höchst romantisch! Lady Westholme sagt, dass das alles Unsinn ist und dass sie einmal ein rothaariges Küchenmädchen hatte, das auch solche Lügen erzählte, aber manchmal denke ich, dass Lady Westholme doch ein wenig zu streng ist. Und es könnte doch ohne weiteres wahr sein, nicht wahr, Monsieur Poirot? Vor Jahren las ich, dass eine der Zarentöchter gar nicht in der Revolution in Russland umkam, sondern heimlich nach Amerika flüchten konnte. Die Großfürstin Tatjana, wenn ich mich nicht irre. Wenn das stimmt, dann könnte das junge Mädchen doch ihre Tochter sein, nicht wahr? Sie hat in der Tat etwas von königlichem Blut angedeutet — und sie hat ja auch etwas Slawisches, finden Sie nicht? Besonders die Wangenknochen. Wäre das nicht furchtbar aufregend?«