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Hercule Poirot berichtete von dem Gespräch, das er in Jerusalem mit angehört hatte.

»Das deutete natürlich stark daraufhin, dass in diesem Fall Mr. Raymond Boynton die treibende Kraft war. Ich studierte die Familie und kam zu dem Schluss, dass der Empfänger seiner vertraulichen Mitteilungen an diesem Abend höchstwahrscheinlich seine Schwester Carol war. Beide ähneln sich sehr in Aussehen und Naturell, und es besteht gewiss eine sehr enge und innige Beziehung zwischen ihnen. Darüber hinaus besitzen sie das nervöse, rebellische Temperament, das die Voraussetzung ist für das Konzept eines solchen Vorhabens. Dass ihr Motiv zum Teil uneigennützig war — sie wollten die ganze Familie befreien und insbesondere ihre jüngere Schwester — , machte die Planung der Tat nur noch plausibler.« Poirot hielt einen Moment inne.

Raymond Boynton öffnete den Mund, um etwas zu sagen, überlegte es sich jedoch anders. Seine Augen blickten Poirot unverwandt mit einem Ausdruck dumpfer Verzweiflung an.

»Bevor ich näher darauf eingehe, was gegen Raymond Boynton spricht, möchte ich Ihnen eine Liste mit entscheidenden Fakten vorlesen, die ich aufstellte und heute Nachmittag Colonel Carbury vorlegte.

ENTSCHEIDENDE FAKTEN

Mrs. Boynton nahm ein Medikament, das Digitalis enthielt.

Dr. Gerard vermisste eine Inj ektionsspritze.

Es machte Mrs. Boynton Spaß, ihre Familie daran zu hindern, mit anderen Menschen zusammen zu sein.

Mrs. Boynton ermunterte ihre Familie an dem besagten Nachmittag, einen Spaziergang zu machen und sie allein zu lassen.

Mrs. Boynton war eine Sadistin.

Die Entfernung zwischen dem Gemeinschaftszelt und der Stelle, wo Mrs. Boynton saß, beträgt (circa) 200 Meter.

Mr. Lennox Boynton sagte zunächst aus, er wisse nicht, wann er ins Camp zurückgekommen sei, gab später je doch zu, die Armbanduhr seiner Mutter gestellt zu haben.

Das Zelt von Dr. Gerard stand direkt neben dem von Miss Ginevra Boynton.

Um 18.30 Uhr, als das Abendessen fertig war, wurde ein Diener zu Mrs. Boynton geschickt, um sie zu holen.

10. Mrs. Boynton benutzte in Jerusalem die Worte: >Ich vergesse nichts. Merken Sie sich das gut! Ich vergesse niemals etwas.<

Obwohl ich diese Punkte einzeln aufgelistet habe, lassen sie sich gelegentlich paarweise zusammenfassen. Das ist zum Beispiel bei den beiden ersten der Fall. Mrs. Boynton nahm ein Medikament, das Digitalis enthielt. Dr. Gerard vermisste eine Injektionsspritze. Diese beiden Punkte waren das Erste, was mir bei diesem Fall auffiel, und ich darf Ihnen versichern, dass ich sie höchst erstaunlich fand — und sehr widersprüchlich. Sie verstehen nicht, was ich meine? Egal. Ich werde noch darauf zurückkommen. Es sei hier nur so viel gesagt, dass ich bemerkte, dass diese beiden Punkte dringend einer zufrieden stellenden Erklärung bedurften.

Ich will mit meinen Überlegungen zu der Möglichkeit von Raymond Boyntons Schuld fortfahren. Die Fakten sind folgende: Er wurde belauscht, als er die Möglichkeit erörterte, Mrs. Boynton ums Leben zu bringen. Er befand sich in einem Zustand großer nervöser Erregung. Er hatte — Mademoiselle wird mir verzeihen«, er verbeugte sich wie zur Entschuldigung vor Sarah, »gerade einen Moment heftiger Gemütsbewegung durchlebt. Das heißt, er hatte sich verliebt. Der Überschwang seiner Gefühle könnte ihn zu ganz unterschiedlichen Handlungen veranlasst haben. Vielleicht ist er nun milder und nachsichtiger gegenüber der Welt im Allgemeinen, einschließlich seiner Stiefmutter — vielleicht hat er endlich den Mut, ihr die Stirn zu bieten und ihren Einfluss abzuschütteln. Aber vielleicht erhielt er auch den letzten Anstoß, sein verbrecherisches Vorhaben von der Theorie in die Praxis umzusetzen. Das ist die Psychologie! Wenden wir uns nun den Fakten zu.

Raymond Boynton verließ das Camp etwa Viertel nach drei mit den anderen. Mrs. Boynton war zu der Zeit erklärtermaßen wohlauf. Bald darauf hatten Raymond und Sarah King ihr kleines tête-a-tête. Dann verließ er Miss King. Wie er sagt, kehrte er zehn Minuten vor sechs ins Camp zurück. Er ging hinauf zu seiner Mutter, wechselte einige Worte mit ihr, ging dann in sein Zelt und anschließend hinunter in das Gemeinschaftszelt. Er sagt aus, dass Mrs. Boynton zehn Minuten vor sechs gesund und munter war.

Aber nun kommen wir zu einem Sachverhalt, der dieser Aussage diametral widerspricht. Um halb sieben wurde Mrs. Boyntons Tod von einem Diener entdeckt. Miss King, die ausgebildete Ärztin ist, untersuchte die Leiche, und sie schwört, dass der Tod — obwohl sie nicht speziell auf den Zeitpunkt seines Eintritts achtete — eindeutig und unbestreitbar mindestens eine Stunde vor sechs Uhr stattgefunden hatte, wahrscheinlich sogar schon wesentlich früher.

Sie sehen, wir haben es hier mit zwei widersprüchlichen Aussagen zu tun. Wenn wir die Möglichkeit beiseite lassen, dass Miss King einen Fehler gemacht hat — «

»Ich mache keine Fehler«, fiel ihm Sarah ins Wort. »Und wenn ich einen gemacht hätte, würde ich es zugeben.«

Ihre Stimme klang hart und entschieden.

Poirot deutete eine höfliche Verbeugung an.

»Dann gibt es nur zwei Möglichkeiten — entweder Miss King lügt oder Mr. Boynton lügt! Betrachten wir die Gründe, die Raymond Boynton haben könnte, die Unwahrheit zu sagen. Nehmen wir an, Miss King hat sich nicht geirrt und nicht vorsätzlich gelogen. Wie hat es sich dann abgespielt? Raymond Boynton kommt zurück ins Camp, sieht seine Mutter vor ihrer Höhle sitzen, geht zu ihr und stellt fest, dass sie tot ist. Was macht er daraufhin? Ruft er Hilfe herbei? Unterrichtet er unverzüglich das ganze Camp? Nein, er wartet ein oder zwei Minuten, begibt sich dann in sein Zelt, geht in das Gemeinschaftszelt zu seiner Familie und sagt nichts. Ein solches Verhalten ist doch höchst kurios, nicht wahr?«

Raymond sagte in nervösem, scharfem Ton: »Es wäre sogar absolut idiotisch. Schon das allein müsste Ihnen beweisen, dass meine Mutter noch gesund und munter war, genau wie ich sagte. Miss King war aufgeregt und durcheinander und muss sich geirrt haben.«

»Es erhebt sich die Frage«, fuhr Poirot ungerührt fort, »ob es möglicherweise einen Grund gibt für ein solches Verhalten. Auf den ersten Blick scheint es, dass Raymond Boynton nicht der Täter sein kann, weil zu dem einzigen Zeitpunkt, zu dem er an jenem Nachmittag nachweislich seine Mutter aufsuchte, diese bereits seit geraumer Zeit tot war. Wenn wir also annehmen, dass Raymond Boynton unschuldig ist, wie können wir dann sein Verhalten erklären?

Ich behaupte: Unter der Voraussetzung, dass er unschuldig ist, können wir es! Denn ich erinnere mich an die Worte, die ich zufällig hörte. >Du siehst doch ein, dass sie sterben muß!< Er kommt zurück von seinem Spaziergang und findet sie tot vor, und sein schuldbewusster Geist denkt sofort an eine ganz bestimmte Möglichkeit. Der Plan wurde ausgeführt — nicht von ihm, sondern von seiner Mitwisserin. Tout simplement, er hat den Verdacht, dass seine Schwester Carol die Tat begangen hat.«