Nadine Boyntons Wangen röteten sich.
»Ich — ich wusste nicht genau, wo sie abgeblieben war«, murmelte sie.
»Sie sind sehr schlagfertig, Madame«, sagte Poirot leise.
Sechzehntes Kapitel
Es entstand eine Pause. Dann räusperte sich Poirot, was leicht affektiert klang, und fuhr fort: »Damit haben wir das Rätsel der zweiten Spritze gelöst. Diese gehörte Mrs. Lennox Boynton, wurde vor der Abreise aus Jerusalem von Raymond Boynton an sich gebracht, wurde nach der Entdeckung der Leiche von Mrs. Boynton von Carol an sich genommen, wurde von ihr weggeworfen, von Miss Pierce gefunden und von Miss King als die ihre erklärt. Ich nehme an, sie befindet sich noch immer in Miss Kings Besitz.«
»So ist es«, sagte Sarah.
»Folglich haben Sie, als Sie vorhin sagten, sie gehöre Ihnen, etwas getan, was sie angeblich nicht tun — Sie haben gelogen.«
»Das ist etwas anderes«, sagte Sarah ruhig. »Hier geht es nicht um eine — eine berufliche Lüge.«
Gerard nickte beifällig.
»Ja, das ist ein Argument, in der Tat. Ich verstehe Sie vollkommen, Mademoiselle.«
»Danke«, sagte Sarah.
Wieder räusperte sich Poirot.
»Wenden wir uns nun der Zeittabelle zu. Alors:
15.05 (ca.): Die Boyntons und Jefferson Cope verlassen das Camp.
15.15 (ca.): Dr. Gerard und Sarah King verlassen das Camp.
16.15: Lady Westholme und Miss Pierce verlassen das Camp.
16.20 (ca.): Dr. Gerard kommt zurück ins Camp.
16.35: Lennox Boynton kommt zurück ins Camp.
16.40: Nadine Boynton kommt zurück ins Camp und spricht mit Mrs. Boynton.
16.50 (ca.): Nadine Boynton verlässt ihre Schwiegermutter und geht ins Gemeinschaftszelt.
17.10: Carol Boynton kommt zurück ins Camp.
17.40: Lady Westholme, Miss Pierce und Mr. Jefferson Cope kommen zurück ins Camp.
17.50: Raymond Boynton kommt zurück ins Camp.
18.00: Sarah King kommt zurück ins Camp.
18.30: Die Tote wird entdeckt.
Sie werden bemerken, dass es eine Lücke von zwanzig Minuten gibt zwischen 16.50 Uhr, als Nadine Boynton ihre Schwiegermutter verließ, und 17.10 Uhr, als Carol zurückkam. Wenn Carol also die Wahrheit sagt, dann muss Mrs. Boynton in diesen zwanzig Minuten ermordet worden sein.
Aber wer könnte sie getötet haben? Miss King und Raymond Boynton waren zu der Zeit zusammen. Mr. Cope, der allerdings kein erkennbares Motiv für die Tat hat, besitzt ein Alibi. Er hielt sich bei Lady Westholme und Miss Pierce auf. Lennox Boynton war mit seiner Frau im Gemeinschaftszelt. Dr. Gerard lag stöhnend mit Fieber in seinem Zelt. Das Camp ist verlassen, die Boys schlafen. Der Moment für ein Verbrechen ist günstig! Gab es eine Person, die es hätte verüben können?«
Sein Blick wanderte nachdenklich zu Ginevra Boynton.
»Es gab tatsächlich eine solche Person. Ginevra Boynton war den ganzen Nachmittag in ihrem Zelt. Das wurde uns jedenfalls gesagt — aber es besteht Grund zu der Annahme, dass sie sich nicht die ganze Zeit in ihrem Zelt aufhielt. Ginevra Boynton machte eine sehr aufschlussreiche Bemerkung. Sie sagte, dass Dr. Gerard im Fieber ihren Namen sprach. Und Dr. Gerard hat uns erzählt, dass er in seinen Fieberträumen Ginevra Boyntons Gesicht sah. Aber das war kein Traum! Es war tatsächlich sie, die er neben seinem Bett stehen sah. Er hielt es für einen Fieberwahn — aber es war Realität. Ginevra war in Dr. Gerards Zelt, Ist es nicht möglich, dass sie gekommen war, um die Spritze zurückzubringen, nachdem sie sie benutzt hatte?«
Ginevra Boynton hob den Kopf mit dem Kranz aus rotblondem Haar. Ihre schönen großen Augen, die noch ausdrucksloser als sonst waren, starrten Poirot an. Sie wirkte wie eine entrückte Heilige.
»»Ah, ça non!«, rief Dr. Gerard aus.
»Ist es psychologisch denn so unmöglich?«, erkundigte sich Poirot.
Der Franzose blickte zu Boden.
Nadine Boynton sagte scharf: »Ausgeschlossen!«
Poirot sah sie schnell an. »Ausgeschlossen, Madame?«
»Ja.« Sie hielt inne, biss sich auf die Lippen und fuhr dann fort: »Ich werde mir eine derart schändliche Beschuldigung meiner Schwägerin nicht anhören. Wir — wir alle wissen, dass das völlig unmöglich ist.«
Ginevra bewegte sich auf ihrem Stuhl. Ihr Mund entspannte sich zu einem Lächeln — dem anrührenden, unschuldigen, halb unbewussten Lächeln eines noch sehr jungen Mädchens. Nadine sagte noch einmaclass="underline" »Völlig unmöglich!«
Ihr sanftes Gesicht hatte einen entschlossenen Ausdruck angenommen. Der Blick, mit dem sie Poirot ansah, war hart und unnachgiebig.
Poirot deutete eine leichte Verbeugung an.
»Madame ist sehr intelligent«, sagte er.
»Was wollen Sie damit sagen, Monsieur Poirot?«, fragte Nadine ruhig.
»Ich will damit sagen, Madame, dass ich gleich bemerkt habe, dass Sie ein >helles Köpfchen< sind, wie man so schön sagt.«
»Sie schmeicheln mir.«
»Ich glaube nicht. Sie haben die Situation die ganze Zeit ruhig und im Ganzen gesehen. Nach außen hin blieben Sie mit Ihrer Schwiegermutter auf gutem Fuß, weil Sie das für das Beste hielten, aber in Ihrem Inneren haben Sie über sie gerichtet und sie verurteilt. Ich glaube, Sie erkannten schon vor geraumer Zeit, dass die einzige Chance Ihres Mannes, glücklich zu werden, darin bestand, sich von seiner Familie frei zu machen — seinen eigenen Weg zu gehen, auch wenn dieses Leben Mühsal und Entbehrung bedeutete. Sie waren bereit, jedes Risiko einzugehen, und Sie versuchten alles, um ihn dazu zu bringen, diesen Weg einzuschlagen. Aber Sie scheiterten, Madame. Lennox Boynton besaß nicht mehr den Willen, frei zu sein. Er war es zufrieden, in Apathie und Melancholie zu versinken.
Ich habe jedoch nicht den geringsten Zweifel, Madame, dass Sie Ihren Gatten lieben. Ihr Entschluss, ihn zu verlassen, wurde nicht durch eine größere Liebe zu einem anderen Mann ausgelöst. Es war wohl eher ein verzweifelter Versuch, die letzte Karte, auf die Sie Ihre Hoffnung setzten. Eine Frau in Ihrer Situation konnte nur drei Dinge tun. Sie konnte es mit Bitten versuchen. Das fruchtete nichts, wie ich bereits sagte. Sie konnte ihrem Mann drohen, ihn zu verlassen. Aber es ist möglich, dass selbst diese Drohung ihre Wirkung bei Lennox Boynton verfehlt hätte, dass sie ihn nur noch elender machen, jedoch nicht veranlassen würde, sich aufzulehnen. Aber es gab noch einen letzten, verzweifelten Schritt. Sie konnten mit einem anderen Mann fortgehen. Eifersucht und Besitztrieb gehören zu den am tiefsten verwurzelten Instinkten des Menschen. Sie bewiesen Ihre Klugheit, indem Sie versuchten, an diesen wilden Urinstinkt zu appellieren. Wenn Lennox Boynton Sie widerspruchslos zu einem anderen Mann gehen ließ — dann war ihm in der Tat nicht mehr zu helfen, dann konnten Sie ebenso gut versuchen, mit einem anderen ein neues Leben zu beginnen.
Aber nehmen wir einmal an, dass selbst dieses letzte, desperate Mittel versagte. Ihr Mann war schrecklich bestürzt über Ihren Entschluss, aber er reagierte trotzdem nicht so, wie Sie gehofft hatten und wie ein primitiver Mensch reagiert hätte, nämlich mit einem Ausbruch von Besitzgier. Gab es überhaupt etwas, um Ihren Mann vor dem rapide fortschreitenden geistigen Verfall zu retten? Es gab nur eins. Wenn seine Stiefmutter tot wäre, dann wäre es vielleicht noch nicht zu spät. Dann könnte es ihm gelingen, als freier Mann ein neues Leben anzufangen, seine Selbstständigkeit und Männlichkeit wiederzugewinnen.«