Poirot schwieg einen Moment und sagte dann noch einmaclass="underline" »Wenn seine Stiefmutter tot wäre.«
Nadines Augen waren noch immer auf Poirot gerichtet. Mit unbewegter, ruhiger Stimme sagte sie: »Sie wollen damit andeuten, dass ich mithalf, ihren Tod herbeizuführen? Aber das können Sie nicht, Monsieur, Poirot. Nachdem ich Mrs. Boynton meine bevorstehende Abreise mitgeteilt hatte, ging ich direkt ins Gemeinschaftszelt zu Lennox. Und ich habe das Zelt erst wieder verlassen, nachdem meine Schwiegermutter tot aufgefunden worden war. Ich mag in gewissem Sinn an ihrem Tod schuld sein, weil ich ihr einen Schock versetzte — was wiederum bedeuten würde, dass sie eines natürlichen Todes starb. Wenn sie aber, wie Sie behaupten, vorsätzlich ermordet wurde — wofür Sie bislang keine Beweise haben und auch nicht haben können, bevor eine Autopsie stattgefunden hat —, dann hatte ich jedenfalls keine Gelegenheit, die Tat zu begehen.«
»Sie haben also«, sagte Poirot, »das Gemeinschaftszelt nicht mehr verlassen, bis Ihre Schwiegermutter tot aufgefunden wurde. Das haben Sie gerade gesagt. Und das, Mrs. Boynton, war einer der Punkte, die ich an diesem Fall merkwürdig fand.«
»Wie meinen Sie das?«
»Er steht hier auf meiner Liste. Punkt neun. Um halb sieben, als das Abendessen fertig war, wurde ein Diener geschickt, um Mrs. Boynton Bescheid zu sagen.«
»Ich verstehe nicht, was Sie damit sagen wollen«, warf Raymond ein.
»Ich auch nicht«, sagte Carol.
Poirot blickte vom einen zum anderen.
»Nein? Ein Diener wurde geschickt — warum ein Diener? Waren Sie, Sie alle hier, in der Regel nicht immer höchst beflissen und besorgt um die alte Dame? Geleitete sie nicht stets der eine oder andere von Ihnen zu den Mahlzeiten? Sie war gebrechlich. Sie hatte Probleme, sich ohne fremde Hilfe vom Stuhl zu erheben. Immer war der eine oder andere von Ihnen an ihrer Seite. Ich behaupte daher, dass es die natürlichste Sache von der Welt gewesen wäre, wenn jemand von der Familie sich zu ihr begeben und ihr geholfen hätte, als das Abendessen fertig war. Aber keiner von Ihnen machte Anstalten, sie zu holen. Sie alle saßen da wie gelähmt, beobachteten einander und wunderten sich vielleicht, warum niemand zu ihr ging.«
Nadine sagte scharf: »Das ist doch völlig absurd, Monsieur Poirot! Wir waren alle müde an dem Abend. Ich gebe zu, wir hätten selbst gehen müssen, aber an dem Abend taten wir es nun einmal nicht!«
»Genau das meine ich — an dem bewussten Abend! Sie, Madame, kümmerten sich vielleicht mehr um sie als jeder andere. Sie hielten es für Ihre selbstverständliche Pflicht. Doch an diesem Abend boten Sie nicht an, sie holen zu gehen. Warum nicht? Genau das fragte ich mich — warum nicht? Und ich will Ihnen die Antwort verraten: Weil Sie sehr wohl wussten, dass sie tot war...
Nein, sagen Sie jetzt nichts, Madame.« Poirot hob abwehrend die Hand. »Sie werden mir jetzt zuhören — mir, Hercule Poirot! Es gab Zeugen für Ihr Gespräch mit Ihrer Schwiegermutter. Zeugen, die Sie sehen, aber nicht hören konnten! Lady Westholme und Miss Pierce waren zu weit weg. Die beiden Damen sahen, wie Sie sich anscheinend mit Ihrer Schwiegermutter unterhielten, aber welche Beweise haben wir, dass es sich tatsächlich so verhielt? Ich möchte Ihnen eine kleine Theorie vortragen. Sie haben Verstand, Madame. Wenn Sie in Ihrer ruhigen und überlegten Art etwas beschließen — sagen wir die Beseitigung der Mutter Ihres Mannes —, dann führen Sie es mit Umsicht und nach der entsprechenden Vorbereitung aus. Sie haben Zugang zu Dr. Gerards Zelt, während dieser an der morgendlichen Exkursion teilnimmt. Sie sind ziemlich sicher, dass Sie ein geeignetes Arzneimittel finden werden. Ihre Ausbildung als Krankenschwester hilft Ihnen dabei. Sie wählen Digitoxin, ein Medikament, das die alte Dame einnimmt — und Sie nehmen seine Injektionsspritze an sich, denn Ihre eigene ist zu Ihrem Ärger verschwunden. Sie hoffen, die Spritze zurückbringen zu können, bevor der Doktor ihr Fehlen bemerkt.
Bevor Sie mit der Ausführung Ihres Plans beginnen, unternehmen Sie einen letzten Versuch, Ihren Mann zum Handeln zu veranlassen. Sie teilen ihm Ihre Absicht mit, Jefferson Cope zu heiraten. Obwohl Ihr Mann äußerst bestürzt ist, reagiert er nicht so, wie Sie gehofft hatten — Sie sind also gezwungen, Ihren Mordplan in die Tat umzusetzen. Sie gehen zurück ins Camp und wechseln im Vorbeigehen einige freundliche Worte mit Lady Westholme und Miss Pierce. Sie gehen hinauf, wo Ihre Schwiegermutter sitzt. Die Spritze mit dem Medikament haben Sie bei sich. Es ist nicht schwer, ihr Handgelenk zu packen und — als Krankenschwester haben Sie schließlich Übung darin — die Spritze zu verabreichen. Bevor Ihre Schwiegermutter begreift, was Sie tun, ist alles vorbei. Die anderen Leute weiter unten im Tal sehen nur, dass Sie mit ihr reden, sich über sie beugen. Dann holen Sie ganz bewusst einen Stuhl, setzen sich zu ihr und plaudern offenbar einige Minuten mit ihr. Der Tod muss fast augenblicklich eingetreten sein. Sie reden mit einer Toten, aber wer würde das erraten? Dann bringen Sie den Stuhl zurück und gehen hinunter ins Gemeinschaftszelt, wo Sie Ihren Mann lesend vorfinden. Und Sie sind sehr darauf bedacht, das Zelt nicht wieder zu verlassen! Sie sind überzeugt, dass man Mrs. Boyntons Tod auf Herzversagen zurückführen wird. Und die Todesursache wird ja tatsächlich Herzversagen sein. Nur in einem Punkt geht Ihr Plan schief. Sie können die Spritze nicht in Dr. Gerards Zelt zurückbringen, weil der gute Doktor mit einem Malariaanfall darniederliegt und — was Sie nicht wissen können — die Spritze bereits vermisst hat. Das, Madame, war der schwache Punkt eines ansonsten perfekten Verbrechens.«
Einen Moment lang herrschte Stille — Totenstille. Dann sprang Lennox Boynton auf und schrie: »Nein! Das ist eine verdammte Lüge! Nadine hat nichts damit zu tun. Sie hätte es gar nicht tun können. Meine Mutter — meine Mutter war bereits tot.«
»Ah!« Poirot bedachte ihn mit einem freundlichen Blick. »Dann haben also Sie sie getötet, Mr. Boynton.«
Wieder herrschte Schweigen — bis Lennox sich auf seinen Stuhl fallen ließ und zitternd die Hände vors Gesicht schlug.
»Ja — es stimmt. Ich habe sie getötet.«
»Sie entwendeten das Digitoxin aus Dr. Gerards Zelt?«
»Ja.«
»Wann?«
»Als — wie Sie sagten, am Vormittag.«
»Und die Spritze?«
»Die Spritze? Die auch.«
»Warum haben Sie sie getötet?«
»Das fragen Sie noch?«
»Ja, das frage ich Sie, Mr. Boynton.«
»Aber das wissen Sie doch — meine Frau wollte mich verlassen, mit Cope.«
»Gewiss, aber das erfuhren Sie erst am Nachmittag. «
Lennox starrte ihn an. »Ja, als wir den Spaziergang machten.«
»Dennoch nahmen Sie das Gift und die Spritze bereits am Vormittag an sich — bevor Sie es erfuhren?«
»Warum, zum Teufel, quälen Sie mich mit Ihren Fragen?« Er hielt inne und fuhr sich mit zitternder Hand über die Stirn. »Kommt es denn darauf noch an?«
»Darauf kommt es sehr wohl an. Ich gebe Ihnen den guten Rat, Mr. Boynton, mir die Wahrheit zu sagen.«
»Die Wahrheit?« Lennox stierte ihn an.
»Das sagte ich — die Wahrheit.«
»Bei Gott, Sie sollen sie hören«, sagte Lennox unvermittelt. »Aber ich weiß nicht, ob Sie mir glauben werden.« Er holte tief Luft. »Als ich Nadine an dem Nachmittag verließ, war ich am Boden zerstört. Ich hätte mir nie träumen lassen, dass sie mich wegen eines anderen verlassen würde. Ich war — wie von Sinnen! Ich hatte das Gefühl, betrunken zu sein oder eine schwere Krankheit hinter mir zu haben.«