Poirot nickte und sagte: »Ich erinnere mich, was Lady Westholme über Ihren Gang sagte, als Sie bei ihr vorbeikamen. Darum wusste ich, dass Ihre Frau nicht die Wahrheit sprach, als sie erklärte, sie hätte es Ihnen erst nach Ihrer Rückkehr ins Camp gesagt. Fahren Sie fort, Mr. Boynton.«
»Ich wusste kaum, was ich tat... Aber auf dem Weg ins Camp schien mein Kopf wieder klarer zu werden. Mir ging schlagartig auf, dass ich alles nur mir selbst zuzuschreiben hatte! Ich war ein jämmerlicher Waschlappen gewesen! Ich hätte meiner Stiefmutter die Stirn bieten müssen und schon Vorjahren weggehen sollen. Und mir kam der Gedanke, dass es vielleicht trotz allem noch nicht zu spät war. Da saß sie, diese teuflische alte Frau, hockte wie ein abscheulicher Götze vor der roten Felswand. Ich ging geradewegs zu ihr, um die Sache mit ihr auszufechten. Ich wollte ihr klipp und klar meine Meinung sagen und dass ich weggehen würde. Ich hatte die verrückte Vorstellung, noch am gleichen Abend verschwinden zu können — mit Nadine fortzugehen und noch vor Einbruch der Nacht bis nach Ma’an zu kommen.«
»Oh, Lennox, Liebster.« Es klang wie ein gedehnter leiser Seufzer.
»Und dann«, fuhr Lennox fort, »mein Gott, ich war wie vom Blitz gerührt! Sie war tot. Saß da — und war tot! Ich — ich wusste nicht, was ich tun sollte. Ich war wie betäubt, benommen — alles, was ich ihr ins Gesicht hatte schreien wollen, ballte sich in mir zusammen, wurde zu Blei. Ich kann es nicht erklären. Zu Stein — ja, als würde alles in mir zu Stein. Dann tat ich etwas ganz Mechanisches — ich nahm ihre Armbanduhr — sie lag auf ihrem Schoß — und band sie ihr um — um das schrecklich schlaffe tote Handgelenk.«
Er erschauerte. »O Gott, es war furchtbar! Dann wankte ich hinunter ins Gemeinschaftszelt. Ich hätte jemand rufen müssen, ich weiß — aber ich konnte es nicht. Ich saß einfach da, blätterte in einer Zeitschrift — und wartete.«
Er brach ab.
»Sie werden mir nicht glauben, Monsieur Poirot! Wie könnten Sie auch? Warum habe ich keine Hilfe geholt? Warum Nadine nichts davon gesagt? Ich weiß es nicht.«
Dr. Gerard räusperte sich.
»Ihre Erklärung ist absolut plausibel, Mr. Boynton«, sagte er. »Sie befanden sich in einem Zustand höchster nervlicher Anspannung. Zwei schwere seelische Erschütterungen so kurz hintereinander genügten völlig, um Sie in den Zustand zu versetzen, den Sie uns geschildert haben. Es handelt sich dabei um die so genannte Weißenhalter’sche Reaktion — illustriert am Beispiel eines Vogels, der mit dem Kopf gegen eine Fensterscheibe stößt. Selbst nachdem er sich erholt hat, vermeidet er instinktiv jede Bewegung, um seinen Nervenzentren Zeit zu geben, sich zu erholen — ich kann mich auf Englisch nicht richtig ausdrücken, aber ich will damit Folgendes sagen: Sie hätten gar nicht anders handeln können. Entschlossenes Handeln jedweder Art wäre Ihrerseits absolut unmöglich gewesen! Sie befanden sich in einem Stadium geistiger Lähmung.«
An Poirot gewandt setzte er hinzu: »Ich versichere Ihnen, mon ami, dass es sich so verhält.«
»Oh, daran zweifle ich nicht«, sagte Poirot. »Es gibt da einen kleinen Punkt, der mir bereits aufgefallen war — die Tatsache, dass Mr. Boynton seiner Stiefmutter die Armbanduhr wieder umgebunden hat. Dafür kann es zwei Erklärungen geben. Es könnte eine Tarnung für die eigentliche Tat gewesen sein, oder es hätte von Nadine Boynton beobachtet und falsch verstanden werden können. Sie kehrte nur fünf Minuten nach ihrem Mann zurück. Sie muss es also gesehen haben. Als sie zu ihrer Schwiegermutter kam und sie tot vorfand mit einem Einstich am Handgelenk, musste sie zwangsläufig den voreiligen Schluss ziehen, dass ihr Mann die Tat begangen hatte — dass ihr
Entschluss, ihn zu verlassen, eine andere als die von ihr erhoffte Reaktion bei ihm hervorgerufen hatte. Kurzum, Nadine Boynton glaubte, dass sie ihren Mann veranlasst hatte, einen Mord zu begehen.«
Er sah Nadine an. »Ist es nicht so, Madame?«
Sie senkte den Kopf. Dann fragte sie: »Hatten Sie mich tatsächlich im Verdacht, Monsieur Poirot?«
»Sie kamen als Täter in Frage, Madame.«
Sie beugte sich vor.
»Und was geschah nun wirklich, Monsieur Poirot?«
Siebzehntes Kapitel
»Was wirklich geschah?«, wiederholte Poirot.
Er griff hinter sich, zog einen Stuhl heran und setzte sich. Er war auf einmal umgänglich, ungezwungen.
»Das ist die große Frage, nicht wahr? Denn das Digitoxin wurde entwendet — die Spritze war verschwunden — am Handgelenk der Toten war der Einstich einer Spritze zu sehen.
Es ist richtig, dass wir in einigen Tagen definitiv wissen werden, ob Mrs. Boynton an einer Überdosis Digitalis starb oder nicht — die Autopsie wird es uns sagen. Aber dann könnte es zu spät sein! Es wäre besser, die Wahrheit heute Abend herauszufinden — solange der Mörder noch hier unter uns ist.«
Nadine hob abrupt den Kopf.
»Heißt das, dass Sie immer noch glauben — dass einer von uns — einer hier im Zimmer.« Ihre Stimme erstarb.
Poirot nickte bedächtig vor sich hin.
»Ich habe Colonel Carbury die Wahrheit versprochen. Und nun, nachdem wir alles aus dem Weg geräumt haben, stehen wir wieder dort, wo ich schon angelangt war, als ich eine Liste der Fakten niederschrieb und mich umgehend mit zwei eklatanten Widersprüchen konfrontiert sah.«
Zum ersten Mal mischte sich Colonel Carbury ein. »Wie wär’s, wenn Sie das näher erläutern würden?«, schlug er vor.
»Ich bin im Begriff, es zu tun«, sagte Poirot würdevoll. »Wir werden uns noch einmal die beiden ersten Punkte auf meiner Liste vornehmen. Mrs. Boynton nahm ein Medikament, das Digitalis enthielt, und Dr. Gerard vermisste eine Injektionsspritze. Betrachten wir diese beiden Fakten und stellen wir sie der unbestreitbaren Tatsache gegenüber — die mir sofort ins Auge sprang —, dass die Reaktion der Familie Boynton unverkennbar schuldbewusst war. Man sollte daher meinen, dass nur jemand aus der Familie das Verbrechen begangen haben konnte! Aber genau die beiden Punkte, die ich erwähnte, sprechen gegen diese Theorie. Sie müssen wissen, eine konzentrierte Lösung Digitalis zu verwenden — das ist ein raffinierter Schachzug, o ja, denn Mrs. Boynton nahm dieses Medikament ohnehin ein. Aber was würde jemand aus ihrer Familie damit tun? Darauf gibt es nur eine vernünftige Antwort. Er würde es in ihr Medizinfläschchen tun! Genau das würde jeder, aber auch jeder, der einen Funken Verstand besitzt und Zugang zu dem Medikament hatte, mit Sicherheit tun!
Früher oder später nimmt Mrs. Boynton ihre Medizin und stirbt — und selbst wenn das Digitoxin in dem Fläschchen entdeckt wird, lässt es sich leicht auf ein Versehen des Apothekers zurückführen, der die Medizin zusammenstellte. Auf jeden Fall kann man nichts beweisen!
Warum dann der Diebstahl der Inj ektionsspritze ?
Dafür kann es nur zwei Erklärungen geben. Entweder Dr. Gerard übersah die Spritze und sie wurde gar nicht gestohlen, oder aber die Spritze wurde entwendet, weil der Mörder keinen Zugang zu dem Medikament hatte — und das heißt, der Mörder war nicht ein Mitglied der Familie Boynton. Die beiden ersten Punkte meiner Liste deuten ganz entschieden darauf hin, dass das Verbrechen von einem Außenstehenden verübt wurde!