Ich erkannte das sofort — aber wie gesagt, ich war irritiert, weil die Familie Boynton so offenkundige Anzeichen von schlechtem Gewissen erkennen ließ. War es möglich, dass die Familie trotz ihres Schuldbewusstseins dennoch unschuldig war? Ich machte mich daran, es zu beweisen — nicht die Schuld, sondern die Unschuld dieser Menschen!
So viel wissen wir jetzt. Der Mord wurde von einem Außenstehenden begangen — das heißt, von einer Person, die Mrs. Boynton nicht nahe genug stand, um in ihr Zelt gehen zu können oder sich an ihrem Medizinfläschchen zu schaffen zu machen.«
Er schwieg einen Moment.
»In diesem Raum befinden sich drei Personen, die, rein technisch, Außenstehende sind, mit diesem Fall aber in engem Zusammenhang stehen.
Mr. Cope, mit dem wir uns als Erstes beschäftigen wollen, ist seit längerem mit der Familie Boynton befreundet. Können wir bei ihm ein Motiv und eine Gelegenheit für die Tat erkennen? Anscheinend nicht. Mrs. Boyntons Tod hatte negative Auswirkungen für ihn — denn er zerstörte gewisse Hoffnungen, die Mr. Cope sich gemacht hatte. Sofern sein Motiv nicht das geradezu fanatische Verlangen war, anderen eine Wohltat zu erweisen, liegt bei ihm kein erkennbarer Grund vor, warum er Mrs. Boyntons Tod gewünscht haben sollte. Es sei denn, es gibt ein Motiv, von dem wir nichts ahnen. Wir wissen schließlich nicht exakt, welcher Art Mr. Copes Beziehung zu der Familie Boynton war.«
»Das, Monsieur Poirot«, sagte Mr. Cope würdevoll, »erscheint mir doch ein bisschen an den Haaren herbeigezogen. Sie sollten nicht vergessen, dass ich überhaupt keine Gelegenheit hatte, diese Tat zu begehen, und außerdem vertrete ich sehr entschiedene Ansichten, was die Unantastbarkeit des menschlichen Lebens betrifft.«
»Ihre Position scheint tatsächlich unangreifbar zu sein«, sagte Poirot mit großem Ernst. »In einem Roman würde Sie das sehr verdächtig machen.«
Er drehte sich etwas auf dem Stuhl herum. »Und nun zu Miss King. Miss King hatte durchaus ein Motiv, sie verfügt über die erforderlichen medizinischen Kenntnisse und sie besitzt Charakterstärke und Entschlossenheit. Aber da sie das Camp vor halb vier mit den anderen verließ und erst um sechs Uhr zurückkam, fällt es mir schwer zu sehen, wann sie die Gelegenheit dazu gehabt haben könnte.
Wenden wir uns nun Dr. Gerard zu. Hier müssen wir in Betracht ziehen, wann der Mord tatsächlich begangen wurde. Laut Mr. Lennox Boyntons letzter Aussage war seine Mutter um 16.35 Uhr tot. Laut Lady Westholme und Miss Pierce war sie um 16.15 Uhr noch am Leben, als die beiden Damen zu ihrem Spaziergang aufbrachen. Dazwischen klafft eine Lücke von exakt zwanzig Minuten. Als die beiden Damen sich vom Camp entfernten, kam ihnen Dr. Gerard entgegen, der ins Camp zurückging. Aber niemand kann sagen, was Dr. Gerard tat, als er das Camp erreichte, denn die beiden Damen gingen in die entgegengesetzte Richtung und wandten ihm den Rücken zu. Es ist daher absolut möglich, dass Dr. Gerard das Verbrechen verübte. Als Arzt konnte er ohne weiteres die Symptome einer Malaria simulieren. Und ich wage zu behaupten, dass es ein mögliches Motiv gibt. Dr. Gerard wünschte vielleicht eine bestimmte Person zu retten, deren Verstand in Gefahr war — was vielleicht ein größerer Verlust ist als der Verlust des Lebens. Oder er dachte, dass es sich lohnt, dafür ein altes und verbrauchtes Leben zu opfern!«
»Das ist doch absurd!«, sagte Dr. Gerard.
Poirot sprach weiter, ohne von ihm Notiz zu nehmen.
»Aber wenn es so wäre, warum wies Gerard dann auf die Möglichkeit hin, dass etwas faul sein könnte? Ohne seine Aussage gegenüber Colonel Carbury, so viel steht fest, wäre Mrs. Boyntons Tod auf natürliche Ursachen zurückgeführt worden. Es war Dr. Gerard, der als Erster die Möglichkeit eines Mordes andeutete.
Und das, mes amis«, sagte Poirot, »ist wider alle Vernunft!«
»Scheint mir auch so«, sagte Colonel Carbury unwirsch.
»Es gibt noch eine andere Möglichkeit«, sagte Poirot. »Mrs. Lennox Boynton verneinte vorhin ganz entschieden die Möglichkeit, dass ihre jüngere Schwägerin dieser Tat schuldig sein könnte. Die Entschiedenheit ihres Einspruchs basierte auf der Tatsache, dass sie wusste, dass ihre Schwiegermutter zu der Zeit bereits tot war. Aber Sie dürfen nicht vergessen, dass Ginevra Boynton sich den ganzen Nachmittag im Camp aufhielt. Und es gab einen Moment — den Moment, als Lady Westholme und Miss Pierce das Camp verließen und bevor Dr. Gerard ins Camp zurückkam. «
Ginevra machte eine Bewegung. Sie beugte sich vor und sah Poirot mit einem sonderbaren, unschuldigen, verwirrten Blick an.
»Ich? Ich soll es getan haben?«
Im nächsten Augenblick war sie, mit einer schnellen und unglaublich schönen Bewegung, vom Stuhl aufgesprungen, quer durch das Zimmer zu Dr. Gerard geeilt und neben ihm auf die Knie gesunken. Sie klammerte sich an ihn und sah flehentlich zu ihm auf.
»Nein, o nein! Das dürfen Sie nicht zulassen! Sie wollen mich nur wieder einsperren! Es ist nicht wahr! Ich habe nichts getan! Das sind alles meine Feinde — sie wollen mich ins Gefängnis stecken — damit ich nichts sage! Sie müssen mir helfen. Nur Sie können mir helfen!«
»Ruhig, Kind, ganz ruhig.« Der Arzt tätschelte ihr begütigend den Kopf. Dann wandte er sich an Poirot: »Was Sie da sagen, ist völliger Unsinn. Absurd!«
»Verfolgungswahn?«, fragte Poirot leise.
»Ja. Aber sie hätte nie und nimmer so methodisch vorgehen können. Sie hätte ein dramatischeres Mittel gewählt, verstehen Sie? Einen Dolch — irgendetwas Extravagantes, Spektakuläres —, aber niemals diese kaltblütige, besonnene Logik! Ich versichere Ihnen, meine Freunde, es ist so. Dieses Verbrechen war wohl durchdacht — geplant von einem kühlen Verstand.«
Poirot lächelte. Dann verbeugte er sich unvermittelt. »Je suis entierement de votre avis«, sagte er verbindlich.
Achtzehntes Kapitel
»Machen wir weiter«, sagte Hercule Poirot, »wir sind noch nicht am Ende angelangt! Dr. Gerard hat die Psychologie angesprochen. Darum wollen wir nun die psychologische Seite dieses Falles untersuchen. Wir haben die Fakten ermittelt, wir haben den zeitlichen Ablauf der Ereignisse festgelegt, wir haben das Beweismaterial gehört. Bleibt noch — die Psychologie. Und der wichtigste psychologische Aspekt betrifft die Tote selbst — denn die Persönlichkeit von Mrs. Boynton ist in diesem Fall von ausschlaggebender Bedeutung.
Nehmen wir Punkt drei und vier meiner Liste der Fakten. Es machte Mrs. Boynton Spaß, ihre Familie daran zu hindern, mit anderen Menschen zusammen zu sein. Mrs. Boynton ermunterte ihre Familie an dem besagten Nachmittag, einen Spaziergang zu machen und sie allein zu lassen.
Aber diese beiden Punkte widersprechen sich eklatant! Warum sollte sich Mrs. Boynton ausgerechnet an diesem Nachmittag so völlig wider ihre Natur verhalten? Hatte sie plötzlich ein weiches Herz — den Drang, gütig zu sein? Das erscheint mir, nach allem, was ich gehört habe, höchst unwahrscheinlich! Es muss also einen Grund dafür gegeben haben. Aber welchen?