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Betrachten wir den Charakter von Mrs. Boynton etwas genauer. Es gibt sehr unterschiedliche Aussagen über sie. Sie war eine tyrannische, rücksichtslose alte Frau — sie war eine Sadistin — sie war die Verkörperung des Bösen — sie war wahnsinnig. Welche dieser Meinungen ist die richtige?

Ich persönlich glaube, dass Sarah King der Wahrheit am nächsten kam, als sie in Jerusalem aufgrund einer jähen Eingebung die alte Dame plötzlich als ein höchst bedauernswertes Wesen sah. Und nicht nur bedauernswert, sondern auch bedeutungslos!

Versetzen wir uns, sofern wir das können, in den Geisteszustand von Mrs. Boynton. Eine Frau, geboren mit einem ungeheuren Ehrgeiz, mit dem Drang, andere zu beherrschen und ihnen ihren Willen aufzuzwingen. Weder sublimierte sie ihr intensives Verlangen nach Macht, noch versuchte sie es im Zaum zu halten. Nein, Mesdames et Messieurs — sie kultivierte es! Aber letzten Endes — hören Sie gut zu! —, auf was lief es letzten Endes hinaus? Sie war gar keine so große Macht! Sie wurde nicht gefürchtet und gehasst weit und breit! Sie war der kleine Haustyrann einer isolierten Familie! Und wie Dr. Gerard mir sagte, begann sie sich zu langweilen — wie das bei jeder alten Dame und ihrem Zeitvertreib irgendwann der Fall ist. Und so versuchte sie, ihre Aktivitäten auszuweiten und sich einen neuen Kitzel zu verschaffen, indem sie ihre Dominanz anfechtbarer machte! Aber das führte zu einem völlig anderen Resultat! Auf dieser Auslandsreise wurde ihr zum ersten Mal bewusst, wie völlig unbedeutend sie war!

Und damit kommen wir direkt zu Punkt zehn — den Worten, die sie in Jerusalem zu Sarah King sagte. Denn, sehen Sie, Sarah King hatte den Finger auf die Wahrheit gelegt. Sie hatte die jämmerliche Bedeutungslosigkeit von Mrs. Boyntons Leben klar und schonungslos enthüllt! Und nun achten Sie einmal darauf, was ihre genauen Worte zu Miss King waren. Miss King zufolge sprach Mrs. Boynton >so bösartig — und ohne mich dabei auch nur anzusehe<. Und ihre genauen Worte waren: >Ich vergesse niemals etwas — keine Handlung, keinen Namen, kein Gesicht. <

Diese Worte hinterließen bei Miss King einen starken Eindruck. Die außergewöhnliche Heftigkeit und der raue, laute Ton, in dem sie gesagt wurden, beeindruckten sie so sehr, dass sie die außerordentliche Bedeutung dieser Worte überhaupt nicht erfasste!

Sie erkennen die wahre Bedeutung dieser Worte?« Er wartete einen Moment. »Offenbar nicht. Aber, mes amis, merken Sie denn nicht, dass diese Worte auf keinen Fall eine vernünftige Antwort waren auf das, was Miss King gerade gesagt hatte? >Ich vergesse niemals etwas — keine Handlung, keinen Namen, kein Gesicht.< Das ergibt doch keinen Sinn! Wenn sie gesagt hätte: >Ich vergesse niemals eine Unverschämtheit< oder etwas Ähnliches. Aber nein, sie spricht von einem Gesicht.

Das muss einem doch ins Auge springen!«, rief Poirot aus und klatschte in die Hände. 

»Diese Worte, die sich scheinbar an Miss King richteten, waren überhaupt nicht für Miss King bestimmt! Sie galten einer anderen Person, jemandem, der hinter Miss King stand.«

Er hielt inne und beobachtete die Mienen seiner Zuhörer.

»Ja, es springt einem ins Auge! Ich sage Ihnen, das war ein psychologischer Moment im Leben von Mrs. Boynton! Sie war durch eine intelligente junge Frau mit ihrer eigenen Bedeutungslosigkeit konfrontiert worden! Sie wurde von blinder Wut erfasst — und in diesem Moment erkannte sie jemanden, ein Gesicht aus der Vergangenheit — ein Opfer, das ihr auf Gedeih und Verderb ausgeliefert war!

Wir sind also wieder bei dem Außenstehenden angelangt. Und jetzt erkennen wir die wahre Bedeutung von Mrs. Boyntons unerwarteter Freundlichkeit an dem besagten Nachmittag. Sie wollte ihre Familie loswerden, weil sie — um es salopp auszudrücken — jemanden in die Pfanne hauen wollte! Sie wollte freie Bahn haben für eine Unterredung mit einem neuen Opfer.

Betrachten wir die Ereignisse jenes Nachmittags aus diesem neuen Blickwinkel! Die Familie Boynton geht weg. Mrs. Boynton sitzt oben vor ihrer Höhle. Prüfen wir nun sorgfältig die Aussagen von Lady Westholme und Miss Pierce. Letztere ist keine zuverlässige Zeugin, sie ist unaufmerksam und leicht zu beeinflussen. Lady Westholme dagegen ist eine akribische Beobachterin und weiß genau, was sie gesehen hat. Beide Damen stimmen in einem Punkt überein! Ein Araber, einer der Diener, geht zu Mrs. Boynton, verärgert sie aus irgendeinem Grund und zieht sich eilends zurück. Lady Westholme sagt unmissverständlich aus, dass der Diener vorher im Zelt von Ginevra Boynton war, aber Sie werden sich erinnern, dass Dr. Gerards Zelt direkt neben dem von Ginevra stand. Es ist daher durchaus möglich, dass der Araber in Dr. Gerards Zelt ging.«

»Wollen Sie allen Ernstes behaupten«, warf Colonel Carbury ein, »dass einer von meinen Beduinen mit einer Spritze auf die alte Dame losgegangen ist? Das ist doch grotesk!«

»Geduld, Colonel Carbury, ich war noch nicht fertig. Einigen wir uns darauf, dass der Araber aus dem Zelt von Dr. Gerard gekommen sein könnte, nicht aus dem von Ginevra Boynton. Aber wie geht es weiter? Die beiden Damen sind sich einig, dass sie sein Gesicht nicht deutlich genug sahen, um ihn identifizieren zu können, und dass sie nicht hörten, was gesprochen wurde. Nun, das ist verständlich. Die Entfernung zwischen dem Gemeinschaftszelt und dem Felsvorsprung beträgt etwa zweihundert Meter. Lady Westholme konnte jedoch eine genaue Beschreibung des Mannes geben, detailliert seine abgerissenen Breeches schildern und wie schlampig seine Gamaschen gewickelt waren.«

Poirot beugte sich vor. »Und das, meine Freunde, war wirklich sehr merkwürdig! Denn wenn sie weder sein Gesicht sehen noch hören konnte, was gesprochen wurde, dann konnte sie unmöglich den Zustand seiner Breeches und seiner Wickelgamaschen erkennen! Nicht auf zweihundert Meter!

Das war ein Fehler, verstehen Sie? Es brachte mich nämlich auf eine seltsame Idee. Warum legte sie solches Gewicht auf die zerrissenen Breeches und die schlampigen Wickelgamaschen? Vielleicht deshalb, weil die Breeches nicht zerrissen und die Gamaschen nicht vorhanden waren? Lady Westholme und Miss Pierce sahen beide den Mann — aber von da, wo sie saßen, konnte keine die andere sehen. Das beweist die Tatsache, dass Lady Westholme nachsehen ging, ob Miss Pierce wach war, und feststellte, dass sie vor dem Eingang ihres Zeltes saß.«

»Großer Gott!«, sagte Colonel Carbury und setzte sich ruckartig auf. »Wollen Sie damit sagen, dass —?«

»Ich will damit Folgendes sagen. Nachdem Lady Westholme sich vergewissert hatte, was Miss Pierce machte — die einzige Zeugin, die möglicherweise wach war —, ging sie zurück in ihr Zelt, zog Reithosen, Stiefel und einen khakifarbenen Mantel an, machte sich aus ihrem karierten Staubtuch und einem Strang Wolle eine arabische Kopfbedeckung zurecht und ging, solchermaßen gewandet, dreist in Dr. Gerards Zelt, kramte in seiner Reiseapotheke, wählte das passende Medikament, nahm die Spritze, füllte sie und ging dreist hinauf zu ihrem Opfer.

Mrs. Boynton war vielleicht eingenickt. Lady Westholme handelte schnell. Sie griff nach ihrem Handgelenk und injizierte das Gift. Mrs. Boynton stieß einen erstickten Schrei aus, versuchte aufzustehen, sank zurück. Der >Araber< lief allem Anschein nach beschämt und bestürzt davon. Mrs. Boynton drohte ihm mit dem Stock, versuchte aufzustehen, fiel in ihren Stuhl zurück.