Fünf Minuten später begibt sich Lady Westholme zu Miss Pierce und berichtet ihr von dem Vorfall, dessen Zeugin sie soeben gewesen ist, und prägt Miss Pierce so ihre eigene Version ein. Dann machen die beiden einen Spaziergang, bleiben unterhalb des Felsvorsprungs kurz stehen, wo Lady Westholme der alten Dame etwas zuruft. Sie bekommt keine Antwort — denn Mrs. Boynton ist tot —, aber sie sagt zu Miss Pierce: >Wie unhöflich, einfach nur zu grunzen!< Miss Pierce nimmt ihre Worte für bare Münze, denn sie hat oft gehört, wie Mrs. Boynton eine Bemerkung mit einem Grunzen quittierte. Sie wird notfalls besten Gewissens schwören, das Grunzen tatsächlich gehört zu haben. Lady Westholme hat oft genug mit Frauen wie Miss Pierce in Ausschüssen gesessen, um ganz genau zu wissen, welchen Eindruck ihre eigene bedeutende Stellung und ihre dominierende Persönlichkeit auf solche Frauen machen. Der einzige Punkt ihres Planes, der nicht klappte, war das Zurücklegen der Spritze. Dr. Gerards vorzeitige Rückkehr machte ihr einen Strich durch die Rechnung. Sie hoffte, dass er das Fehlen der Spritze nicht bemerkt hatte oder denken würde, er hätte sie übersehen, und so brachte sie sie während der Nacht zurück.«
Er schwieg.
»Aber warum?«, fragte Sarah. »Warum sollte Lady Westholme die alte Mrs. Boynton umbringen wollen?«
»Haben Sie mir nicht erzählt, dass Lady Westholme sich ganz in Ihrer Nähe aufhielt, als Sie in Jerusalem mit Mrs.
Boynton sprachen? Mrs. Boyntons Worte waren an Lady Westholme gerichtet. >Ich vergesse niemals etwas — keine Handlung, keinen Namen, kein Gesicht.< Nehmen Sie diese Worte und die Tatsache, dass Mrs. Boynton früher Aufseherin in einem Gefängnis war, und Sie bekommen eine ziemlich gute Vorstellung von der Wahrheit. Lord Westholme lernte seine Frau auf der Rückreise aus Amerika kennen. Lady Westholme war vor ihrer Ehe eine Kriminelle gewesen und hatte eine Gefängnisstrafe verbüßt.
Sie sehen das schreckliche Dilemma, in dem sie sich befand? Ihre Karriere, ihre Ambitionen, ihre gesellschaftliche Position — alles stand auf dem Spiel! Welcher Art das Verbrechen war, für das sie eine Haftstrafe verbüßte, wissen wir nicht, werden es jedoch bald erfahren. Aber es muss etwas gewesen sein, das ihre politische Karriere mit einem Schlag beendet hätte, wenn es bekannt geworden wäre. Und bedenken Sie, Mrs. Boynton war keine gewöhnliche Erpresserin! Sie wollte kein Geld. Sie wollte sich damit amüsieren, ihr Opfer eine Zeit lang zu quälen, und dann spektakulär und genüsslich die Wahrheit enthüllen! Nein, solange Mrs. Boynton lebte, war Lady Westholme nicht sicher. Sie folgte Mrs. Boyntons Anweisungen, sich in Petra mit ihr zu treffen. Ich fand es von Anfang an seltsam, dass eine Frau, die so von ihrer eigenen Bedeutung überzeugt ist wie Lady Westholme, es vorgezogen haben sollte, als einfache Touristin zu reisen. Aber im Stillen sann sie zweifellos über Mittel und Wege nach, um Mrs. Boynton zu ermorden. Sie sah ihre Chance und ergriff sie mutig beim Schopf. Sie machte nur zwei kleine Fehler. Der eine war, dass sie ein wenig zu viel sagte — die Beschreibung der zerrissenen Breeches, die als Erstes meine Aufmerksamkeit auf sie lenkte. Der andere war, dass sie Dr. Gerards Zelt verwechselte und zuerst in das blickte, in dem Ginevra im Halbschlaf lag. Daher die Geschichte des jungen Mädchens — halb Einbildung, halb Wahrheit — von einem verkleideten Scheich. Sie stellte es verkehrt herum dar, gehorchte ihrem Instinkt, die Wahrheit zu verdrehen und dramatischer zu machen, doch für mich war dieser Hinweis bezeichnend.«
Er hielt wieder kurz inne.
»Aber wir werden bald Genaueres wissen. Ich verschaffte mir heute Lady Westholmes Fingerabdrücke, ohne dass sie es bemerkte. Wenn diese an das Gefängnis geschickt werden, in dem Mrs. Boynton früher Aufseherin war, und man sie dort mit den Abdrücken in den Akten vergleicht, werden wir die Wahrheit bald erfahren.«
Er brach ab.
In der plötzlichen Stille war ein lauter Knall zu hören.
»Was war das?«, fragte Dr. Gerard.
»Hörte sich an wie ein Schuss«, sagte Colonel Carbury und sprang auf. »Gleich nebenan. Wessen Zimmer ist das eigentlich?«
Poirot sagte leise: »Ich habe das Gefühl — es ist das Zimmer von Lady Westholme.«
Epilog
Auszug aus dem Evening Shout:
Mit großem Bedauern geben wir bekannt, dass Lady Westholme, Mitglied des englischen Parlaments, infolge eines tragischen Unfalls ums Leben kam. Lady Westholme, die gern in ferne Länder reiste, hatte stets einen kleinen Revolver bei sich. Beim Reinigen der Waffe löste sich unglücklicherweise ein Schuss. Lady Westholme war auf der Stelle tot. Unser aufrichtiges Mitgefühl gilt Lord Westholme.
An einem warmen Juniabend fünf Jahre später saßen Sarah Boynton und ihr Mann im Parkett eines Londoner Theaters. Es gab >Hamlet<. Sarah griff nach Raymonds Arm, als Ophelia auf der Bühne die Worte sprach:
Sarah hatte plötzlich einen Kloß im Hals. Diese zerbrechliche, umnachtete Schönheit, dieses liebreizende überirdische Lächeln eines Wesens, das Kummer und Leid hinter sich gelassen hat und in Gefilden schwebt, wo nur die flüchtige Illusion noch Wahrheit war.
»Sie ist wunderschön.«, sagte Sarah bei sich.
Die betörende, melodiöse Stimme, die schon immer diesen wundervollen Klang gehabt hatte, war nun zu einem perfekten Instrument geworden, diszipliniert und moduliert.
Als der Vorhang nach dem ersten Akt fiel, sagte Sarah aus voller Überzeugung: »Jinny ist eine großartige Schauspielerin! Einfach großartig!«
Nach der Vorstellung traf man sich im Savoy zum Souper. Ginevra, lächelnd und versonnen, wandte sich dem bärtigen Mann an ihrer Seite zu: »Ich war doch gut, Theodore, oder?«
»Du warst wunderbar, chérie.«
Auf ihren Lippen zeichnete sich ein glückliches Lächeln ab. »Du hast immer an mich geglaubt«, murmelte sie. »Du hast immer gewusst, dass etwas in mir steckt — dass ich die Menschen mitreißen kann.«
An einem Tisch in der Nähe saß der Hamlet des Abends und sagte düster: »Sie ist furchtbar manieriert! Dergleichen gefällt den Leuten natürlich, zunächst jedenfalls, aber ich kann nur sagen, das ist nicht Shakespeare. Habt ihr gesehen, wie sie mir meinen Abgang ruiniert hat?«
Nadine, die Ginevra gegenübersaß, bemerkte: »Ist es nicht aufregend, in London zu sein und mitzuerleben, wie Jinny die Ophelia spielt und wie berühmt sie ist?«
Ginevra sagte leise: »Es war sehr nett von euch, extra herüberzukommen.«
»Ein richtiges Familientreffen«, sagte Nadine und blickte lächelnd in die Runde. Dann sagte sie zu Lennox: »Meinst du nicht, dass die Kinder in die Nachmittagsvorstellung gehen könnten? Sie sind doch alt genug dafür und sie möchten so gern Tante Jinny auf der Bühne sehen!«
Lennox, ein ganz normaler, gelöst wirkender Lennox mit humorvollen Augen, erhob das Glas.
»Auf das junge Paar! Auf Mr. und Mrs. Cope!«
Jefferson Cope und Carol erwiderten den Toast.