»Noch nicht. Ich möchte sichergehen, dass niemand zurückkommt.«
Seine Vorsicht war völlig überflüssig. Niemand kam zurück, um noch einmal am Grab seines Bruders oder Vaters zu weinen, und es erschien auch niemand, um einen Drudenfuß abzulegen oder das Grab auf andere Weise magisch zu versiegeln. Nach einer Weile verließen sie die Kapelle und näherten sich vorsichtig den beiden frisch ausgehobenen Gräbern. Andrej lauschte mit all seinen übermenschlich scharfen Sinnen in die Nacht hinein, aber da war kein Geräusch mehr, das nicht hierher gehörte. Sie waren allein.
Dennoch erlebten sie eine Überraschung. Es gab nicht zwei Gräber, sondern nur ein einzelnes, breit genug, um zwei Särge nebeneinander aufzunehmen. Auf diesem Grab lag kein Stein, und es gab nur ein einfaches Holzkreuz ohne Beschriftung.
»Was suchen wir hier?«, fragte Abu Dun, nachdem sie eine ganze Weile schweigend nebeneinander dagestanden und den flachen Hügel aus frischer Erde angestarrt hatten. Das Grab roch gut; nicht so, wie ein Grab riechen sollte, sondern nach Leben. Sonderbar.
»Ich weiß es nicht«, gestand Andrej. »Aber irgendetwas ist hier nicht so, wie es sein sollte. Oder wie man uns Glauben machen will, dass es ist.«
»Du bist auch ganz der Alte geblieben«, sagte Abu Dun spöttisch.
»Du liebst es noch immer, in Rätseln zu sprechen.«
Andrej machte eine unwillige Geste zu den frischen Gräber ringsum.
»Fünf Tote in weniger als zwei Wochen, das nenne ich auf jeden Fall nicht üblich«, sagte er.
»Vielleicht ist eine Krankheit ausgebrochen«, sagte Abu Dun achselzuckend. Nach einem kurzen Augenblick fügte er hinzu: »Oder es sind die Soldaten aus dem Kloster.«
»Die man extra den langen Weg hierher geschafft hat, um sie auf diesem Friedhof beizusetzen?« Andrej schüttelte wenig überzeugt den Kopf.
»Dann doch eine Krankheit«, beharrte Abu Dun. »Wer weiß, vielleicht sogar die Pest. Wir sollten machen, dass wir von hier verschwinden, bevor wir uns am Ende noch anstecken.«
»Unsinn!« Andrej sah sich suchend um, und er entdeckte fast sofort, wonach er Ausschau gehalten hatte: Die Dörfler hatten Spitzhacken und Schaufeln nicht wieder mitgenommen, sondern in ein paar Schritten Entfernung liegen gelassen. Vielleicht hatte Abu Dun Recht, und es standen tatsächlich noch mehr Beerdigungen an, sodass es die Mühe nicht lohnte, das Werkzeug ständig hin- und herzuschleppen.
Er holte zwei Schaufeln und reichte eine davon Abu Dun. Der Nubier starrte sie an, als handele es sich um ein besonders ekliges Getier, das noch mit den Giftzähnen klapperte.
»Was soll ich damit?«
»Mir beim Graben helfen«, antwortete Andrej. »Ich will wissen, woran diese Leute gestorben sind.«
»Bist du verrückt?« Abu Dun verschränkte die Arme vor der Brust.
»Außerdem bin ich krank und darf mich nicht so anstrengen, das hast du selbst gesagt.«
Ohne ein weiteres Wort zu erwidern, begann Andrej zu graben. Der lockere Boden machte es leicht, rasch vorwärts zu kommen. Abu Dun sah ihm eine Weile mit finsterer Mine zu, zog sich aber bald ein Stück zurück; auch, weil die eine oder andere Schaufel Erdreich ganz zufällig in seine Richtung flog.
Zu Andrejs Erleichterung - aber ebenso großen Überraschung - war das Grab nicht besonders tief. Er hatte kaum einen halben Meter gegraben, als die hölzerne Schaufel auf Widerstand stieß. Er schaufelte schneller, legte nach einem Augenblick den ersten und wenige Augenblicke später den zweiten Sarg frei.
»Mach nicht so viel Lärm«, sagte Abu Dun grinsend. »Du weckst ja die Toten auf.«
Andrej warf die Schaufel nach ihm, ging in die Hocke und begutachtete die Särge aufmerksam. Seine erste Einschätzung war richtig gewesen. Die Särge waren roh, und mit offensichtlich sehr viel mehr Hast als Sorgfalt zusammengezimmert, aber äußerst stabil. Ohne Werkzeug hatte er keine Möglichkeit sie zu öffnen.
Andrej zog sein Schwert, schob die Klinge mit einiger Mühe in den schmalen Spalt zwischen Deckel und Sarg und benutzte die Waffe als Hebel.
Im ersten Moment geschah nichts. Andrej verstärkte seine Anstrengungen und fürchtete schon, seine Schwertspitze könnte abbrechen. Dann aber gab der Sargdeckel nach. Die Nägel glitten mit einem sonderbar weichen, fast seufzenden Laut aus dem Holz.
Im nächsten Augenblick folgte der Deckel, der zur Seite kippte und zerbrach.
Andrej wusste nicht, was er erwartet hatte - aber darunter lag nichts anderes als das, was man in einem Grab gewöhnlich fand: ein Toter. Der Mann konnte nicht viel älter gewesen sein als Thobias. Seinen eingefallenen Wangen und dem gequälten Ausdruck auf seinem Gesicht nach zu schließen, war er keines sehr leichten Todes gestorben.
»Und?« Abu Dun kam näher, blieb aber in größerem Abstand stehen, als notwendig gewesen wäre, und beugte sich neugierig vor.
Andrej fegte die Reste des zerbrochenen Sargdeckels mit einer Handbewegung zur Seite und betrachtete den Toten genauer. Der Mann war vor nicht sehr langer Zeit gestorben; Andrej nahm sogar an, erst im Laufe der zurückliegenden Nacht.
»Ich weiß nicht«, sagte er unentschlossen. »Die Pest war es jedenfalls nicht.«
Er überlegte noch einen Moment, dann wandte er sich dem anderen Sarg zu und öffnete ihn auf die gleiche Weise wie den ersten, nur mit etwas weniger Mühe.
Auch in ihm lag der Leichnam eines Mannes, der allerdings deutlich älter gewesen war als der erste.
»Wenn Ihr damit fertig seid, die Totenruhe zu stören, dann sollten wir uns unterhalten, Andrej.«
Obwohl Andrej die Stimme sofort erkannt hatte, vergingen noch einige Augenblicke, bevor er sich langsam herumdrehte.
Thobias war lautlos aus dem Schatten herausgetreten. Er trug eine gespannte Armbrust in der rechten und einen beidseitig geschliffenen Dolch in der linken Hand. Anscheinend war er allein gekommen, aber er schien keine Furcht zu empfinden. Auf seinem Gesicht lag ein Ausdruck grimmiger Entschlossenheit.
»Eine beeindruckende Vorstellung«, spottete Abu Dun. »Es ist bisher nur wenigen Männern gelungen, sich an mich anzuschleichen.« Er machte eine Kopfbewegung auf die Armbrust in Thobias' Hand. »Kannst du damit umgehen, Mönchlein?«
»Auf diese Entfernung?« Thobias hob die Schultern. Er stand keine fünf Meter von Abu Dun entfernt. »Wollt Ihr mich prüfen, Heide?«
»Aber du kannst uns nicht beide töten«, sagte Abu Dun. »Mich vielleicht, oder Andrej - aber einer bliebe übrig und würde dich töten.«
»Was macht das für einen Unterschied?«, fragte Thobias bitter. »In drei Tagen lebt in diesem Tal ohnehin niemand mehr.«
»Niemand muss sterben, Thobias«, sagte Andrej rasch. Er warf Abu Dun einen mahnenden Blick zu, aber er sah, wie sich der Nubier insgeheim zum Sprung spannte. Unter anderen Umständen hätte er Abu Dun durchaus zugetraut, mit Thobias fertig zu werden, trotz dessen Waffen, aber nicht in dieser Situation.
Sehr vorsichtig, um Thobias nicht zu einer Unbesonnenheit zu treiben, richtete er sich auf und schob das Schwert in den Gürtel zurück.
»Hört mir zu, Thobias«, sagte er. »Ich weiß, was Ihr denken müsst, aber es ist nicht so, wie es den Anschein hat.«
»So?«, fragte Thobias bitter. »Wie ist es dann? Welche Geschichte wollt Ihr mir erzählen, Andrej? Noch mehr Lügen?«
»Ich habe Eure Männer nicht getötet, Thobias«, sagte Andrej in beschwörendem Tonfall. »Es war das Ungeheuer. Dasselbe Geschöpf, das Günther getötet hat. Abu Dun und ich konnten ihm mit Mühe und Not entkommen.«
»Lügen«, sagte Thobias. Seine Stimme zitterte.
»Nichts als neue Lügen.«
»Ihr wisst, dass es nicht so ist«, sagte Andrej ernst.
»Wenn ihr mir nicht glauben würdet, hättet Ihr mich längst getötet. Ihr hättet aus dem Schatten heraus auf Abu Dun geschossen und ihn vermutlich auch getroffen, und Ihr hättet wahrscheinlich sogar noch die Zeit gefunden, auch noch einen zweiten Pfeil aufzulegen und mich zu töten. Aber Ihr habt es nicht getan. Warum?«