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In Thobias' Gesicht zuckte es. Die Armbrust in seiner Hand schwenkte ganz langsam herum und richtete sich nun auf Andrej. »Sagt Ihr es mir!«, verlangte er.

»Weil Ihr wisst, dass ich die Männer nicht getötet habe«, antwortete Andrej.

»Wäre ich es gewesen, dann wäre ich nicht geflohen, sondern hätte auf Euch gewartet, um Euch auch noch umzubringen. Es war das Ungeheuer. Der Werwolf.«

Thobias fuhr unmerklich zusammen. Die Armbrust in seiner rechten und der Dolch in seiner linken Hand zitterten.

»Ich ... ich glaube Euch nicht...«, stammelte er.

»Und warum sind wir dann noch hier?« Andrej machte eine wedelnde Handbewegung zu den beiden aufgebrochenen Särgen. »Warum tun wir das hier? Wir wären längst hundert Meilen weit weg, wenn Ihr Recht hättet.«

Thobias schwieg. Auf sein Gesicht hatte sich ein Ausdruck purer Qual gelegt, und dann ...

... öffnete der jüngere der beiden Toten die Augen und stieß ein leises Winseln aus!

Andrej sprang mit einem entsetzten Keuchen zur Seite, aber seine Bewegung kam zu spät. Der vermeintliche Tote richtete sich auf, mit einer sonderbar steifen, nicht wirklich lebendig wirkenden Bewegung. Seine Hand zuckte vor und umklammerte Andrejs Fußgelenk mit solcher Kraft, dass er das Gleichgewicht verlor und fiel, und noch während er stürzte, sah er, wie Thobias die Armbrust herumschwenkte und abdrückte. Die Sehne entspannte sich mit einem peitschenden Knall, und der gut handlange Bolzen traf den lebenden Toten präzise zwischen die Augen, durchbohrte seinen Schädel und trat am Hinterkopf wieder aus. Der Mann sank lautlos zurück in den Sarg, und der schreckliche Griff der Totenhand löste sich von Andrejs Knöchel.

Noch bevor sich Andrej wieder in die Höhe gestemmt hatte, war Abu Dun über Thobias. Mit einer einzigen Bewegung entrang er ihm den Dolch und schlug ihm zugleich die Armbrust aus der Hand.

Blitzschnell wirbelte er ihn herum, schlang den Arm von hinten um Thobias' Hals und riss ihn von den Füßen. Thobias bäumte sich auf, begann verzweifelt mit den Beinen zu strampeln und versuchte hinter sich zu greifen, um Abu Dun die Augen auszukratzen. Der Nubier lachte nur. Abu Dun mochte in einem bemitleidenswerten Zustand sein, aber er war immer noch stark genug, um Thobias mit einer beiläufigen Bewegung das Genick zu brechen.

»Abu Dun!«, rief Andrej. »Lass ihn los!«

Abu Dun drehte sich nur lachend zu ihm herum, wobei er Thobias wie eine gewichtslose Stoffpuppe herumschleuderte. Der Prediger hatte aufgehört mit den Beinen zu strampeln, und aus seinen Schreien war ein halb ersticktes Keuchen geworden.

»Lass ihn los, Abu Dun!«, ermahnte Andrej ihn scharf. »Du bringst ihn ja um!«

»Genau das habe ich vor«, antwortete Abu Dun. »Allerdings nicht so schnell. So leicht werde ich es deinem Freund nicht machen.«

Er ließ Thobias fallen. Der junge Priester brach zusammen, schlug beide Hände gegen den Hals und rang würgend und hustend nach Luft. Abu Dun starrte ohne die geringste Spur von Mitleid auf ihn hinab, dann schob er den Dolch in den Hosenbund, bückte sich nach Thobias' Armbrust und brach sie ohne besondere Anstrengung in Stücke.

Mit schnellen Schritten war Andrej bei Thobias und kniete neben ihm nieder. »Ist alles in Ordnung?«, fragte er.

Thobias wollte antworten, brachte im ersten Moment aber nichts als ein weiteres qualvolles Husten heraus. Aber er nickte.

»Schon ... schon gut«, keuchte er. »Gebt mir ... nur einen Augenblick.«

Andrej sah wütend zu Abu Dun hoch. »Du hättest ihn beinah getötet!«

»Gut«, sagte Abu Dun. »Schade, dass es nur beinahe war.«

»Lasst ihn«, sagte Thobias. »Es geht schon wieder. Ich kann Euren Freund verstehen. Ich an seiner Stelle hätte wahrscheinlich auch nichts anderes getan.«

Er stand auf. Sein Atem ging noch immer schnell, aber er erholte sich rasch. Er schien viel zäher zu sein, als Andrej angenommen hatte. Nachdem er einen letzten ängstlichen Blick auf Abu Duns Gesicht geworfen hatte, setzte er sich in Bewegung und ging an Andrej vorbei auf das geöffnete Grab zu. Abu Dun und Andrej folgten ihm.

Der Mann im Sarg war nun endgültig tot. Der Ausdruck von Qual war von seinem Gesicht verschwunden und hatte einem Ausdruck fassungslosen Staunens Platz gemacht. Er würde sicher kein zweites Mal von den Toten auferstehen. Der Armbrustbolzen hatte seinen Schädel fast zur Gänze durchschlagen; nur das dreifach gefiederte Ende ragte noch wie ein barbarischer Kopfschmuck aus dem Schädelknochen über der Nase.

»Ein wahrer Meisterschuss«, lobte Abu Dun.

»Früher konnte ich sehr gut mit der Armbrust umgehen«, antwortete Thobias mit belegter Stimme. »Aber ich dachte, ich hätte es verlernt. Ich hatte nur Glück.«

»Wie mir scheint, hatten wir das alle«, sagte Abu Dun. »Aber wie kann das sein? Der Mann war doch tot. Das ... das ist Zauberei!«

Er verstellte sich außerordentlich gut, fand Andrej. Das Zittern in seiner Stimme hätte sogar ihn überzeugt.

»So etwas wie Zauberei gibt es nicht«, antwortete Thobias. Auch seine Stimme klang erschüttert. Er starrte den zum zweiten Mal Gestorbenen aus schreckgeweiteten Augen an, dann beugte er sich über das andere offene Grab. Sorgsam tastete er nach dem Puls des Toten, hob seine Augenlider und tat noch einige andere Dinge, die Andrej nicht genau begriff. Schließlich richtete er sich auf und sah zuerst Abu Dun und dann Andrej an.

»Es beginnt wieder«, murmelte er.

»Was beginnt wieder?«, fragte Abu Dun.

Statt zu antworten, bückte sich Thobias nach der Schaufel, die Andrej fallen gelassen hatte, und ging zu dem benachbarten frischen Grab.

»Helft mir!«

Andrej und Abu Dun tauschten einen verwunderten Blick, während Thobias bereits wie von Sinnen zu graben begann.

Auch zu dritt benötigten sie über eine Stunde, um die Gräber zu öffnen und die darin befindlichen Särge ans Tageslicht zu bringen. Die Sonne ging auf, lange bevor sie mit ihrer Arbeit fertig waren.

Die beiden ersten Särge enthielten die Leichen eines Mannes und einer Frau, die zweifellos tot waren und es auch bleiben würden.

Der Mann, der in dem letzten Sarg lag, den Andrej und Thobias aufbrachen, bot einen anderen Anblick. Einen schlimmeren Anblick.

Auch er war tot. Die Verwesung hatte bereits eingesetzt. Und er war offenbar keines friedlichen Todes gestorben. Sein Körper lag in einer derart verkrümmten Haltung im Sarg, als wäre in allen seinen Gliedmaßen mindestens ein Knochen gebrochen. Seine Haut hing in Fetzen. Er hatte sich selbst das Gesicht zerfleischt, und alle seine Fingernägel waren zersplittert.

»Großer Gott!«, flüsterte Thobias. Er bekreuzigte sich, und auch Andrej spürte, wie ihm alles Blut aus dem Gesicht wich. Selbst Abu Dun sog beim Anblick des Leichnams entsetzt die Luft zwischen den Zähnen ein.

Es musste ein entsetzlicher Todeskampf gewesen sein, dachte Andrej, der Stunden, wenn nicht Tage gedauert hatte. Der Mann musste am Schluss mit solcher Verzweiflung um sich geschlagen haben, dass es ihm tatsächlich gelungen war, eines der massiven Bretter zu zertrümmern, aus denen der Sarg bestand. Erdreich war eingedrungen und hatte seine Panik vermutlich noch gesteigert.

»Ein Toter, der im Grab wieder erwacht«, murmelte Abu Dun.

»Er war niemals tot«, antwortete Thobias. Langsam setzte er sich auf und fuhr sich mit dem Handrücken über das schweißnasse Gesicht. Er hinterließ eine schmierige breite Schmutzspur, ohne es überhaupt zu bemerken.

»Niemals tot?«, fragte Abu Dun. »Warum haben sie ihn dann begraben?«

»Weil sie geglaubt haben, dass er tot ist«, antwortete Thobias. »Ich habe von solchen Fällen gehört, während meines Anatomiestudiums - aber ich habe es noch nie mit eigenen Augen gesehen.« Er erschauderte sichtbar. »Mein Gott. Ich hätte nicht gedacht, dass es so grässlich ist!«