»Was soll das heißen - sie haben geglaubt, dass er tot ist?«, fragte Abu Dun.
»Ein Mensch lebt, oder er ist tot. Sein Herz schlägt, oder es schlägt nicht, so einfach ist das.«
»So einfach ist es leider nicht«, antwortete Thobias. Er sah wieder in den geöffneten Sarg hinab. Sein Gesicht war grau vor Entsetzen. Doch so sehr ihn der Anblick auch erschreckte, schien es ihm gleichzeitig kaum möglich zu sein, den Blick davon abzuwenden.
»Es kommt vor«, fuhr er fort. »Sogar öfter, als man glauben mag. Die Kranken hören scheinbar auf zu atmen. Die Körpertemperatur fällt, und das Herz schlägt nur noch unregelmäßig. Manchmal bluten sie nicht einmal mehr, wenn man in ihre Haut schneidet.«
»Das hast du dir ausgedacht«, behauptete Abu Dun. Seine Stimme zitterte leise.
»Selbst ein erfahrener Arzt hätte große Mühe festzustellen, dass diese Menschen noch leben.«, fuhr Thobias fort, ohne Abu Duns Einwurf auch nur zu beachten. Vermutlich hatte er seine Worte gar nicht gehört. Er starrte den Toten noch immer an. »Sie werden für tot befunden und beigesetzt.«
»Und wachen irgendwann wieder auf«, vermutete Andrej. »Nach Stunden, oder vielleicht auch Tagen.« Ihn schauderte. »In einem Sarg. Tief unter der Erde. Lebendig begraben. Das ist ... eine entsetzliche Vorstellung.«
Thobias nickte. »Manche haben vielleicht Glück und ersticken im Schlaf. Aber die meisten ...« Er brach ab und starrte wieder in den Sarg.
»Unvorstellbar.«
»Und danach werden sie zu lebenden Toten?«, fragte Andrej. »Von einer solchen Krankheit habe ich noch nie gehört.«
»Das hat niemand«, antwortete Thobias. »Wir wissen so wenig über den menschlichen Körper und seine Geheimnisse. Niemand weiß etwas. Auch ich nicht, Andrej. Vielleicht ist es eine Krankheit. Vielleicht auch etwas anderes. Großer Gott, vielleicht habe ich mich die ganze Zeit über geirrt, und es ist doch das Werk des Teufels.«
Andrej tauschte einen verstohlenen Blick mit Abu Dun, auf den der Nubier mit einem ebenso verstohlenen Nicken antwortete. Die Geschichte, die Thobias gerade erzählt hatte, ähnelte auf beunruhigende Weise dem, was sie von dem Zigeunermädchen gehört hatten.
»Gesetzt den Fall, es ist eine Art... Krankheit«, begann Andrej vorsichtig, »und nicht das Werk des Teufels - wieso ist die Welt dann noch nicht von Werwölfen und Vampyren bevölkert?«
Er behielt Thobias scharf im Auge, als er das Wort Vampyr aussprach, aber der Priester zeigte keine Reaktion. Er hob nur die Schultern und starrte weiter in den geöffneten Sarg hinab. »Das weiß ich nicht«, antwortete er mit leiser, beinahe tonloser Stimme. »Vielleicht ist es nur das Endstadium einer Krankheit, Andrej. Vielleicht sterben neun von zehn, vielleicht alle von tausend, bis auf einen.« Er hob in einer Geste völliger Hilflosigkeit die Hände. »Ich weiß es einfach nicht, Andrej.«
Das glaubte Andrej, aber er war dennoch erstaunt über das Ausmaß des Schreckens, der sich auf Thobias' Gesicht abzeichnete.
»Aber ist es nicht genau das, was Ihr die ganze Zeit über vermutet habt?«, fragte er.
Endlich riss Thobias den Blick vom Gesicht des Toten los und sah Andrej direkt an. »Vermutet ... ja. Vielleicht. Aber es ist ein Unterschied, etwas zu vermuten, und so etwas zu sehen.«
»Und das sagt ein Mann der Wissenschaft?«, wunderte sich Andrej.
»Wissenschaft?« Thobias lachte bitter. »Wir sind keine Männer der Wissenschaft, Andrej. Wir stümpern herum, das ist alles. Wir wissen nichts.« Er blickte wieder in den Sarg hinab. »Und vielleicht sollten wir auch manches nicht wissen.«
Der Unterton in Thobias' Stimme entging Andrej keineswegs. Der junge Prediger war nahe daran, endgültig die Kontrolle zu verlieren. Er musste irgendetwas tun, um Thobias wieder in die Wirklichkeit zurückzuholen.
Jetzt.
»Wir müssen die Gräber wieder schließen«, sagte er. »Wenn Vater Benedikt und die Inquisition kommen und das hier sehen, wird es schwierig sein, ihre Fragen zu beantworten.«
»Es ist noch viel schlimmer«, sagte Thobias.
»Was soll das heißen?«
Thobias antwortete nicht sofort. »Es hat einen weiteren Toten im Dorf gegeben«, sagte er schließlich. »Gestern. Ein Bauer, der nicht von der Arbeit auf seinem Feld zurückkam. Sie haben ihn gefunden. Etwas hat ihn regelrecht in Stücke gerissen.«
Andrej sah zu den geöffneten Gräbern hin, aber Thobias schüttelte den Kopf. »Er wurde verbrannt.«
»War das Eure Idee?«
»Die meines Vaters.«
»Dann habt Ihr einen sehr klugen Vater«, sagte Andrej.
»Das habe ich«, sagte Thobias. »Aber es wird die Menschen in Trentklamm auch nicht retten. So wenig wie meinen Vater oder mich selbst.«
Sein Blick flackerte noch immer, aber er fand langsam zu seiner gewohnten Fassung zurück. »Wir könnten versuchen, Birger und seine Brut zu finden und zu töten. Vielleicht verschont Benedikt die Menschen in Trentklamm aber auch, wenn wir ihm etwas anderes geben, das er verbrennen kann. Ihr wisst, wo es sich verbirgt, Andrej.«
»In den Bergen«, sagte Andrej. »Jenseits der Schattenklamm.«
»Halt!«, mischte sich Abu Dun ein. Auf seinem Gesicht begann sich eine Mischung aus Ungläubigkeit und Zorn breit zu machen, während er abwechselnd Andrej und Thobias musterte. »Nur damit ich das richtig verstehe. Ihr erwartet, dass ich dort hinaufgehe und mich diesem ... diesem Ding entgegenstelle, das ein Dutzend Soldaten getötet hat?«
»Sag mir nicht, du hättest Angst«, sagte Andrej.
»Sag du mir einen einzigen Grund, aus dem ich das tun sollte«, erwiderte Abu Dun. Er verzog die Lippen und wandte sich mit einem höhnischen Blick an Thobias. »O ja, jetzt erinnere ich mich. Immerhin habe ich lange genug Eure Gastfreundschaft genossen. Wie konnte ich das vergessen?«
»Es war nicht seine Schuld«, sagte Andrej.
Abu Dun hörte ihm gar nicht zu, und auch Thobias starrte eine geraume Weile aus blicklosen Augen an ihm vorbei ins Leere. Schließlich wandte er sich mit leiser, beinahe flehender Stimme direkt an den Nubier.
»Ich weiß, wie sehr Ihr mich hassen müsst, Abu Dun«, begann er. »Ich verlange nicht, dass Ihr mir verzeiht oder auch nur versteht, warum ich Euch das angetan habe.«
»Wie großzügig«, höhnte Abu Dun.
»Ich bitte nicht für mich«, fuhr Thobias fort. »Ich bin bereit, für das zu bezahlen, was Euch angetan wurde, Abu Dun.«
»Seid Ihr sicher?«, fragte Abu Dun. Seine Augen wurden schmal. »Die Rechnung könnte höher ausfallen, als Ihr ahnt.«
»Macht mit mir, was Ihr wollt«, sagte Thobias leise. »Ihr könnt mich töten, wenn es das ist, was Euren Rachdurst stillt. Es ist mir gleich. Ich bitte für die Menschen unten im Dorf. Wenn ich mit meinem Leben für die von hundert Unschuldigen bezahlen kann, dann soll es mir recht sein.«
»Niemand will Euren Tod«, sagte Andrej.
»Vielleicht nicht Euren Tod, Mönchlein, aber vielleicht einen Arm, oder ein Bein. Oder beides«, grollte Abu Dun.
»Abu Dun!«, rief Andrej scharf.
»Ich bitte Euch, sucht dieses Ungeheuer«, flehte Thobias. »Vernichtet es! Es ist der einzige Weg, die Menschen in Trentklamm zu retten. Und noch viele andere mehr.«
Andrej schwieg. Er sah Thobias an, dann länger und schweigend Abu Dun.
Der Nubier hielt seinem Blick lange Stand, aber schließlich schüttelte er den Kopf.
»Ich wusste ja schon immer, dass du verrückt bist, Hexenmeister.«
»Und?«, fragte Andrej. »Was meinst du damit?«
Abu Dun seufzte tief. »Ich gebe es ungern zu«, sagte er, »aber ich muss wohl ebenfalls verrückt geworden sein.«
Die Schnelligkeit, mit der sich Abu Dun erholte, war geradezu unheimlich. Sie hatten die Gräber wieder geschlossen, so weit es ihnen möglich gewesen war, Anschließend war Thobias verschwunden, um mit zwei gesattelten Pferden zurückzukommen. Zusätzlich hatte er saubere Kleider, Lebensmittel für mehrere Tage und zwei warme Kapuzenmäntel aus grober brauner Wolle mitgebracht.