»Die werdet Ihr brauchen«, erklärte er, als Abu Dun die Stirn runzelte.
»Oben in den Bergen ist es kalt. Der Schnee schmilzt dort nie.«
»Woher habt Ihr diese Kleider?«, fragte Andrej misstrauisch. Die Zeit, die Thobias fort gewesen war, hätte vielleicht ausgereicht, nach Trentklamm und zurück zu gehen und die Pferde zu holen, aber kaum, um all diese umfangreichen Vorbereitungen zu treffen.
Statt zu antworten, holte Thobias ein in Lumpen eingeschlagenes Bündel aus dem Gepäck hervor, das er Abu Dun reichte. Als der Nubier es auswickelte, kam sein eigener Krummsäbel zum Vorschein.
»Was hattet Ihr eigentlich vor?«, fragte Andrej. Er schwankte zwischen Überraschung und Wut. »Uns umzubringen, oder Euch wieder unserer Dienste zu versichern?«
Das Letzte, womit er gerechnet hatte, war eine Antwort, aber er bekam sie.
Thobias zuckte mit den Achseln und wich seinem Blick aus. »Ich weiß es selbst nicht genau. Ich war ... ich weiß nicht, was ich wollte.«
»Woher wusstet Ihr überhaupt, dass wir hier sind?«, fragte Abu Dun.
»So groß ist die Auswahl an Verstecken nicht«, antwortete Thobias. »Seid froh, dass ich gekommen bin und nicht die Soldaten des Landgrafen.« Er machte eine Kopfbewegung zu den Pferden.
Andrej war nicht ganz sicher, aber er glaubte eines davon wieder zu erkennen. Wenn es nicht der Rappe war, mit dem er vor vier Tagen aus der Klosterfestung geflohen war, dann dessen Zwillingsbruder. »Ihr solltet aufbrechen. Mein Vater erwartet euch in der Almhütte. Ihr findet den Weg?«
Andrej tauschte einen überraschten Blick mit Abu Dun, nickte dann aber.
»Wozu?«
»Wir warten auf Nachricht von Vater Benedikt«, antwortete Thobias.
»Euch bleibt nur sehr wenig Zeit, um das Ungeheuer zu stellen. Vielleicht zwei Tage.«
»Wer sagt Euch, dass wir nicht einfach auf die Pferde steigen und unserer Wege gehen?«, fragte Abu Dun.
»Niemand«, antwortete Thobias. »Tut, was immer Ihr mit Eurem Gewissen vereinbaren könnt.«
»Ich bin Heide, Mönchlein«, sagte Abu Dun, während er den Mantel zurückschlug und den Krummsäbel umband. »Und ein Mohr dazu. Ich habe kein Gewissen.«
»Wir haben vor allem keine Zeit für diesen Unsinn.« Andrej drehte sich um und ging zu seinem Pferd. Er war jetzt sicher, dass es der Rappe war. Ohne ein weiteres Wort stieg er in den Sattel und wartete voller Ungeduld darauf, dass Abu Dun es ihm gleichtat. Auch der Nubier saß auf, allerdings mit bedächtiger Langsamkeit. Er warf Thobias einen herausfordernden Blick zu.
Sie ritten los. Andrej war davon ausgegangen, dass sie wegen Abu Duns Verletzungen nicht besonders schnell vorwärts kommen würden, aber das Gegenteil war der Fall. Vielleicht um seinem Ärger Ausdruck zu verleihen, legte Abu Dun ein Tempo vor, bei dem sich Andrej sputen musste, um überhaupt mithalten zu können. Erst als sie das Seitental verlassen hatten, an dessen Ende der Friedhof lag, hielt er an.
»Was sollte das?«, fragte Andrej, während er an ihm vorbeiritt und die nach rechts führende Gabelung des Weges nahm. Seine Versicherung Thobias gegenüber, den Weg zur Bergweide hinauf zu finden, war etwas zu vorschnell gewesen. Er kannte die Richtung, aber er war dennoch fremd hier, und letztendlich sah ein Baum aus wie der andere.
»Was?«, fragte Abu Dun arglos.
»Du weißt genau, was ich meine«, erwiderte Andrej. »Ich erwarte nicht, dass du Thobias in dein großes schwarzes Herz schließt...«
»Das ist gut«, sagte Abu Dun. »Ich hätte auch viel mehr Lust, ihn in meine große schwarze Faust zu schließen.«
»... aber er hat Recht, weißt du?«, fuhr Andrej fort. »Wir müssen Birger stellen. Und alle, die bei ihm sind. Und vorher müssen wir das Ungeheuer finden.«
»Du meinst, du musst ihn stellen und du musst das Ungeheuer finden«, fasste Abu Dun Andrejs Äußerung genauer zusammen.
Andrej riss mit einem so heftigen Ruck am Zügel, dass das Pferd unwillig schnaubte und den Kopf zurückwarf. »Du musst nicht mitkommen«, sagte er scharf. »Es ist ganz allein meine Sache. Ich habe kein Recht, dich in Gefahr zu bringen. Geh deiner Wege. Oder warte hier auf mich. Vielleicht komme ich ja zurück.«
Auch Abu Dun zügelte sein Pferd. Sein Gesicht verfinsterte sich - aber nur für einen Moment. Dann konnte Andrej sehen, wie sein Zorn verrauchte und etwas ... anderem Platz machte.
»Es tut mir Leid«, sagte er. »Ich wollte nicht...« Er überlegte kurz und setzte dann neu an: »Vermutlich hast du Recht. Aber ich kann diesem Mönchlein einfach nicht vertrauen. Könntest du es an meiner Stelle?«
»Wahrscheinlich nicht«, gestand Andrej. Er ritt weiter, und er konnte fast körperlich spüren, wie sich die Spannung zwischen ihnen auflöste wie die letzten Wolken eines Hochsommergewitters.
Es war nicht das erste Mal, dass sie nahezu grundlos in Streit zu geraten drohten.
Bisher hatte Andrej angenommen, dass es an Abu Duns Zustand lag. Ein Mann, der dem Tod so knapp entkommen war, war nicht sehr duldsam.
Aber das war nur ein Teil der Wahrheit. Der andere - unangenehmere - war, dass auch er ungerechter geworden war. Er veränderte sich weiter.
Nachdem sie eine geraume Weile schweigend nebeneinander hergeritten waren, ergriff Abu Dun erneut das Wort. »Was ich vor ein paar Tagen gesagt habe, Andrej ... dass ... dass du mir etwas schuldig bist...«
»Ich sagte dir doch bereits, das ist vergessen«, unterbrach ihn Andrej. »Du musst dich nicht entschuldigen. Du hast im Fieber geredet. Da reden die Leute oft wirres Zeug.«
»Aber es war die Wahrheit«, sagte Abu Dun leise.
Andrej wandte den Kopf und sah ihn an. Abu Dun wirkte nicht niedergeschlagen oder verlegen, und auch sein Tonfall war nicht der einer Rechtfertigung. Er wirkte sehr ernst.
»Was soll das heißen?«
»Jedenfalls war das am Anfang so«, sagte Abu Dun. »Das ist die Wahrheit, Hexenmeister. Ich bin damals bei dir geblieben, weil ich insgeheim die Hoffnung hatte, eines Tages so zu werden wie du.«
»Einsam?«, fragte Andrej. »Immer gehetzt? Ohne einen Ort, an den ich gehöre, oder einen Menschen, den ich lieben kann?«
»He!«, wandte Abu Dun ein. »Du hast doch mich. Ich sollte dir böse sein.«
»Zwecklos«, antwortete Andrej. »Stell dir nur vor, wie unsere Kinder aussehen würden.«
Abu Dun blieb ernst. »Wie alt bist du, Hexenmeister? Sechzig? Siebzig?«
»Ich weiß es nicht genau«, antwortete Andrej wahrheitsgemäß. »Ungefähr.«
»Und du siehst aus wie dreißig.«, sagte Abu Dun. »Eines Tages wirst du sechs- oder siebenhundert Jahre alt sein, und du wirst immer noch aussehen wie fünfunddreißig. Du wirst nie krank. Deine Wunden heilen wie durch Zauberei, und du bist so stark wie zehn Männer. Kannst du es einem Mann verdenken, dass er auch so werden will?«
Vermutlich hätte Andrej an Abu Duns Stelle nicht anders gedacht.
Niemand, der ein solches Leben nicht selbst gelebt hatte, konnte ermessen, welchen Preis er dafür zahlte.
»Und jetzt?«, fragte er. »Jetzt willst du nicht mehr so werden wie ich?«
»Natürlich will ich das«, antwortete Abu Dun. »Und eines Tages werde ich dich dazu bringen, es zu tun, Hexenmeister. Aber nicht jetzt.«
»Dann ist es ja gut«, sagte Andrej abweisend. Er mochte diese Gespräche nicht, und Abu Dun wusste das. Eines Tages würde Abu Dun in seinen Armen sterben, hoffentlich erst in vielen Jahren, grau geworden und friedlich.
Und auch er selbst würde nicht sechs- oder siebenhundert Jahre alt werden.
Er würde auf dem Scheiterhaufen enden, wenn er nicht Glück hatte und zuvor einem Schwert begegnete, das besser geführt wurde als das seine. Die Welt war nun einmal so. Er war anders, und die Menschen und das Schicksal billigten auf Dauer nichts, was sie nicht verstehen konnten und was ihnen Angst machte.
Er verscheuchte den Gedanken. Im Moment gab es anderes zu tun. Vielleicht sollten sie versuchen, die nächsten drei Tage zu überleben, und sich danach Gedanken um die nächsten drei Jahrhunderte machen.