Allmählich ritten sie höher in die Berge hinauf. Es wurde kälter, obwohl die Sonne ihr Licht mit geradezu verschwenderischer Freigebigkeit über den Himmel verteilte. Andrej war schon bald froh, dass Thobias ihnen die warmen Mäntel gegeben hatte. Dabei war das Land rings um sie herum noch grün. Der Winter kam früher in diesem Teil der Welt, als er es gewohnt war.
»Was ist mit Ludowig?«, fragte Abu Dun. »Traust du ihm?«
»Thobias' Vater?« Andrej dachte über diese Frage nach, ohne zu einer wirklichen Antwort zu gelangen. Er hob die Schultern. »Ich denke schon.«
»Einem Pfaffen?« Abu Dun schüttelte ungläubig den Kopf. »Ausgerechnet du traust einem Kuttenträger? Wie kommt das?«
Sie hatten die Bergwiese erreicht. Statt einer Antwort machte Andrej eine Kopfbewegung zu der kleinen Hütte an ihrem jenseitigen Rand hin. »Er wartet dort drüben auf uns.«
Abu Dun sah ihn mit wachsender Verwunderung an, aber er beließ es bei einem Achselzucken. Sein Blick verharrte noch einen Moment auf Andrejs Gesicht und begann dann misstrauisch das weite Grün der Alm abzutasten.
Sie ritten weiter. Nichts schien sich geändert zu haben, seit Andrej das letzte Mal hier gewesen war; selbst die Kühe waren noch da. Neben der Hütte war jedoch jetzt ein Maulesel angebunden, auf dessen Rücken eine zerschlissene Decke lag. Vermutlich das Tier, mit dem Vater Ludowig gekommen war, obgleich die Vorstellung Ludowigs auf dem Rücken eines störrischen Maulesels Andrej ein Lächeln abrang.
Als sie sich der Hütte auf zwanzig Schritte genähert hatten, hielt Andrej das Pferd an und hob die Hand.
»Was?«, fragte Abu Dun knapp. Seine Rechte senkte sich auf den Griff des Krummsäbels.
Andrej konzentrierte sich für einen Moment. »Hier stimmt etwas nicht«, sagte er. »Da ist Blut.«
»Blut?« Abu Dun sah ihn verständnislos an. »Was meinst du damit?«
»Blut«, wiederholte Andrej, Er machte eine Kopfbewegung zur Hütte hin.
»Dort drinnen. Ich kann es riechen.«
»Riechen? Auf diese Entfernung?« Abu Duns Stimme ließ keinen Zweifel daran aufkommen, was er von dieser Behauptung hielt.
»Irgendetwas stimmt hier nicht«, wiederholte Andrej. »Bleib zurück.«
»Dein Vertrauen ehrt mich zutiefst«, sagte Abu Dun, erntete damit aber nur einen weiteren ärgerlichen Blick Andrejs.
»Ich brauche jemanden, der mir Rückendeckung gibt«, schnappte Andrej.
»Hier stinkt es geradezu nach einer Falle!«
Der spöttische Ausdruck verschwand von Abu Duns Zügen. Stattdessen sah der Nubier plötzlich angespannt und aufs Höchste konzentriert aus. Gleichzeitig mit Andrej schwang er sich vom Pferd und zog seine Waffe. Er musste einen Schmerzensschrei unterdrücken, drehte sich aber herum, um die Wiese und den mit Felsbrocken und - trümmern durchsetzten Waldrand auf der anderen Seite im Auge zu behalten.
Andrej näherte sich der Hütte mit äußerster Vorsicht. Der Blutgeruch wurde stärker, aber aus der offen stehenden Tür drang nicht der mindeste Laut. Er ging schneller, blieb dicht vor der Tür noch einmal stehen und trat dann ein, das Schwert halb erhoben und die linke Hand abwehrend vorgestreckt.
Da die Hütte keine Fenster hatte und er direkt aus dem grellen Licht der Mittagssonne kam, benötigten selbst seine überscharfen Augen einige Sekunden, bis er sich so weit an die Dunkelheit gewöhnt hatte, dass er wenigstens Schemen erkennen konnte.
Die Hütte war winzig, ein einziger drei mal fünf Schritte messender Raum, dessen spärliche Einrichtung vollkommen zertrümmert war.
Hier musste ein gnadenloser Kampf getobt haben.
Aber er war vermutlich nicht von langer Dauer gewesen.
Vater Ludowig lag verkrümmt in einem Winkel der Hütte. Er lebte noch, wie seine röchelnden Atemzüge bewiesen, aber schon das war ein Wunder. Selbst ein viel jüngerer und kräftigerer Mann hätte die furchtbaren Verletzungen und den schrecklichen Blutverlust kaum überleben können.
Andrej schob das Schwert in die Scheide, ging zu ihm und kniete neben dem sterbenden Pfarrer nieder. Ludowigs Augen waren geschlossen. Aus den tiefen Schnitt- und Risswunden an seinem Hals und in seinem Gesicht lief noch immer das Blut. Er würde sterben.
Andrej streckte die Hand nach dem so zerbrechlich aussehenden Hals des alten Mannes aus, um ihm eine letzte Gnade zu erweisen und sein Leiden zu beenden, führte die Bewegung aber nicht zu Ende. Es war nicht notwendig. Er sah, dass Ludowig nicht noch einmal erwachen würde.
Erfüllt von Trauer und Zorn richtete Andrej sich auf und suchte den Boden mit Blicken ab. Er fand die Spur fast sofort. Ein verschmierter blutiger Abdruck, der zu einem Wesen gehörte, das nicht ganz Mensch, aber auch nicht vollständig Tier war, sondern eine widernatürliche Mischung aus beidem. Sie führte vom Leichnam des Priesters fort zur Tür und brach dann ab, aber Andrej wusste, wohin sie führen würde. Dennoch ließ er sich noch einmal in die Hocke sinken und streckte die Hand aus. Die Spur war noch frisch; das Blut noch nicht eingetrocknet.
Rasch stand er auf und trat wieder aus der Hütte. Abu Dun war mittlerweile näher gekommen und führte die beiden Pferde an Zügeln hinter sich her. Er stellte keine Frage. Ein Blick in Andrejs Gesicht reichte, um zu wissen, was geschehen war. Abu Dun saß auf, als Andrej noch zehn Schritte entfernt war und zu laufen begann. Er drehte die Pferde in die Richtung, in die sie nun reiten würden, und hielt Andrej den Zügel hin. Sie sprengten los, kaum dass Andrej in den Sattel gesprungen war.
»Wie lange ist es her?«, schrie Abu Dun über das Donnern der Pferdehufe hinweg.
»Nicht lange!«, rief Andrej zurück. »Nur ein paar Minuten. Vielleicht holen wir ihn noch ein, bevor er die Schattenklamm erreicht!«
Zum ersten Mal seit langer Zeit hatte er das Gefühl, zu Abu Dun zu gehören.
Es waren nur Winzigkeiten; die Selbstverständlichkeit, mit der sie sich verständigten und mit der jeder zu wissen schien, was der andere dachte und von ihm erwartete.
Für die Strecke, die Günther und ihn fast einen halben Tag gekostet hatte, brauchten sie kaum eine Stunde. Zwei- oder dreimal glaubte Andrej, eine geduckt huschende Gestalt im hohen Gras zu sehen, aber jedes Mal erwies es sich nur als Täuschung oder als Schatten, der ihnen Bewegung vorgaukelte.
Andrej ließ sein Pferd in einen raschen Trab und schließlich in Galopp fallen, nahm das Tempo aber schließlich wieder zurück, als deutlich wurde, dass Abu Dun nicht mithalten konnte, ohne sich über die Maßen zu verausgaben.
In Gedanken gemahnte er sich zur Vorsicht. Auch wenn Abu Dun sich bemühte, es sich nicht anmerken zu lassen, befand er sich in einem Zustand, in dem jeder andere Mann schon längst vor Erschöpfung zusammengebrochen wäre. Er aber war viel zu stolz, um das zuzugeben.
Andrej musste auf ihn Acht geben.
»Und jetzt?«, fragte Abu Dun, als sie endlich am Eingang der Schattenklamm angelangt waren. Vor ihnen hörte der Grasboden auf und ging in den steinigen Untergrund der Schlucht über. Andrej schwieg einen kurzen Moment, dann schwang er sich aus dem Sattel und ließ sich in die Hocke sinken.
Es war unheimlich. Der Geruch war ganz schwach; nur ein Hauch. Aber er war wahrnehmbar - als Mischung aus Fäulnis, altem Blut und Wildaroma.
»Es ist hier entlanggekommen«, sagte er. »Vor nicht allzu langer Zeit.« Er war fast sicher, dass die Fährte alt war, möglicherweise mehrere Tage. Es war der Geruch von etwas Gefährlichem und Wildem.
Abu Dun runzelte die Stirn. »An dir ist ein Bluthund verloren gegangen«, sagte er.
Andrej sah zornig zu ihm hoch. Abu Dun grinste noch einen Moment lang weiter, dann erlosch sein Grinsen und machte einem ernsten Ausdruck Platz.
»Entschuldige.«
Andrej stand auf, drehte sich herum, um wieder in den Sattel zu steigen und beließ es bei einem Kopfschütteln. Mit den Pferden würden sie noch zwanzig Schritte weit kommen.