Der Werwolf, den Andrej zu Boden geschleudert hatte, kam umständlich wieder auf die Beine. Seine Bewegungen wirkten fahrig und fast kraftlos. Sie hatten nichts mehr von der schattenhaften Anmut und Schnelligkeit, die Andrej bei seiner ersten Begegnung mit einem dieser Ungeheuer so erschreckt hatten.
Der Begegnung, die ihm fast zum Verhängnis geworden wäre.
Abu Dun hob sein Schwert, aber Andrej machte eine rasche Geste, und der Nubier erstarrte mitten in der Bewegung.
»Warte«, mahnte Andrej. »Irgendetwas stimmt nicht.«
Abu Dun murrte. Aber er blieb stehen und betrachtete das struppige Geschöpf stirnrunzelnd, statt es sofort anzugreifen.
Der Werwolf hatte sich taumelnd erhoben und bleckte drohend die Zähne - nur, dass die Geste nicht wirklich drohend wirkte, sondern ...
... ängstlich.
Andrej war fassungslos. Das Geschöpf wirkte so abstoßend wie nichts anderes, das Andrej je zu Gesicht bekommen hatte - aber es hatte Angst.
Und es war krank.
Andrej konnte es riechen; einen sachten, aber wahrnehmbaren Geruch nach Krankheit und Tod, der sich unter den Raubtiergestank des Werwolfes gemischt hatte und ihn an das Fieber und die Schmerzen erinnerte, die er selbst für endlose Tage kennen gelernt hatte.
Er wiederholte seine mahnende Geste in Abu Duns Richtung, raffte all seinen Mut zusammen und trat der Bestie einen Schritt entgegen. Das Schwert hatte er gesenkt, hielt es aber immer noch zur Verteidigung bereit in der rechten Hand.
»Hör mir zu«, sagte er, langsam und fast übermäßig betont, damit die Kreatur ihn verstand. »Du kannst mich verstehen, habe ich Recht?«
Der Werwolf fauchte; ein Laut, der katzenhaft klang. Sein schreckliches Gebiss schnappte in Andrejs Richtung, aber auch diesmal wirkte die Bewegung eher Mitleid erregend. Andrej senkte das Schwert weiter.
»Wir wollen dich nicht töten«, fuhr er fort. »Es ist nicht notwendig, dass wir gegeneinander kämpfen. Hast du das verstanden?«
Das Ungeheuer starrte ihn noch einen Moment lang aus brennenden Augen an - und fuhr mit einer rasend schnellen Bewegung herum, um in der Dunkelheit zu verschwinden.
Abu Dun riss mit einem Fluch das Schwert hoch und setzte ihm nach. Er schaffte jedoch nur zwei Schritte, ehe er mit einem gemurmelten Fluch die Verfolgung abbrach und zurückkam.
»Das war wirklich klug von dir, Hexenmeister«, grollte er. »Wir hätten das Biest erwischen können!«
Andrej antwortete nicht gleich, sondern sah einen Moment konzentriert in die Richtung, in die der Werwolf verschwunden war. Er konnte den schwächer werdenden Geruch des Geschöpfes noch immer wittern. Es war ein vertrauter Geruch. Und doch: Etwas hatte sich geändert. Zu all der unstillbaren Blutgier, dem Zorn und Hass auf alles Lebendige und Atmende war etwas Neues hinzugekommen, ein Empfinden, das alles andere überlagerte und mit jedem Atemzug stärker wurde: Verzweiflung. Eine dumpfe, bohrende Verzweiflung.
Ein Gefühl jenseits aller Hoffnung und allen Selbstbetruges, das aus dem unumstößlichen Wissen um den bevorstehenden Untergang gespeist wurde.
»Sie haben Angst«, sagte er leise.
»Angst.« Abu Dun sprach das Wort auf die gleiche Art aus, auf die er vielleicht einen Schluck kostbaren Wein auf der Zunge zergehen lassen würde. Dann nickte er. »Wenn die anderen nicht besser sind als diese drei, dann haben sie allen Grund, Angst zu haben.«
Andrej warf ihm einen verärgerten Blick zu, auf den Abu Dun mit einem breiten Grinsen antwortete. Andrej schürzte wütend die Lippen und drehte sich mit einem Ruck herum.
Mit zwei schnellen Schritten war er neben dem Werwolf, den er mit dem Schwert niedergeschlagen hatte, und ließ sich neben der verwundeten Kreatur auf ein Knie hinabsinken.
Das Geschöpf hatte das Bewusstsein verloren, und Andrej musste kein zweites Mal hinsehen, um zu wissen, dass es auch nicht wieder erwachen würde. Sein Schwerthieb hatte dem Ungeheuer eine tiefe Wunde zugefügt. Sie blutete so stark, dass der sterbende Werwolf in einer Blutlache lag; warmes, pulsierendes Rot, das nach Verfall und Tod zugleich roch, abstoßend und so unglaublich verlockend, dass er all seine Willenskraft aufbieten musste, um sich nicht vorzubeugen und die Lippen in den warmen Strom zu tauchen, die Lebenskraft des Geschöpfes in sich aufzunehmen und ...
»Andrej?«
Irgendetwas war in Abu Duns Stimme, das ihn aufschrecken ließ. Andrej fuhr hoch und blinzelte verständnislos in Abu Duns Gesicht, das mit einer Mischung aus Sorge und mühsam unterdrücktem Entsetzen auf ihn hinabsah.
Er wusste nicht mehr, was er gesagt hatte, was er gedacht hatte. Was er getan hatte.
»Ist alles in Ordnung?«
Allein das Zittern in Abu Duns Stimme verriet, dass ganz und gar nichts in Ordnung war. Trotzdem nickte Andrej, stemmte sich hoch und blickte einen Herzschlag lang verständnislos seine eigenen Hände an. Sie waren schmutzig und dunkelrot und schwarz von halb eingetrocknetem Blut. Nicht von seinem Blut.
Er fuhr sich mit einer fahrigen Geste über das Kinn und spürte eine klebrige Wärme, die an seinen Wangen und auf seinen Lippen haftete. In seinem Mund war süßlicher Kupfergeschmack, und er fühlte sich so lebendig und stark wie seit Ewigkeiten nicht mehr, aber zugleich auch von einem Entsetzen gepackt, das nicht zu beschreiben war.
Großer Gott - hatte er das Blut... getrunken ?
Er starrte Abu Dun an, las die Antwort auf seine unausgesprochene Frage in dessen Augen und fuhr herum, um so schnell in die Dunkelheit zu stürmen, wie er nur konnte.
Selbst einem Menschen, der nicht über Andrejs besondere Fähigkeiten verfügte, wäre es vermutlich nicht besonders schwer gefallen, der Spur der Kreatur zu folgen. Die Hochebene war nicht so kahl, wie es im ersten Moment den Anschein gehabt hatte. Es gab dünnes Moos und niedrige, dornenbesetzte Büsche, durch die der flüchtende Werwolf rücksichtslos gebrochen war. Obwohl sich Andrej nicht erinnern konnte, auch dieses Geschöpf verwundet zu haben, gab es eine dünne, aber deutliche Blutspur.
Abu Dun hielt die ganze Zeit Abstand zu Andrej. Die wenigen Male, als sich ihre Blicke trafen, wich Abu Dun ihm aus, als hätte er Angst, dass Andrej etwas in seinen Augen lesen könnte, das er dort nicht lesen sollte.
Sie erreichten ihr Ziel schnelclass="underline" eine große, unregelmäßig geformte Höhle, die im schrägen Winkel in den Berg hineingestanzt zu sein schien.
Steintrümmer und Geröll bildeten einen asymmetrisch geformten Fächer auf dem Boden direkt vor der Höhle. Ein leichter, aber sehr unangenehmer Geruch wehte ihnen entgegen und wies ihnen den Weg. Es war der Geruch von faulendem Fleisch, Blut, aber auch von etwas anderem, Schlimmeren.
Andrej blieb drei Schritte vor dem Eingang stehen und zog sein Schwert wieder aus dem Gürtel, bevor er sich zu Abu Dun umwandte. Der Nubier war vier Schritte hinter ihm stehen geblieben und musterte ihn auf eine Art, die Andrej einen Schauer über den Rücken laufen ließ. Auch er hatte seine Waffe wieder gezogen, aber Andrej war plötzlich nicht mehr sicher, warum.
»Sie sind dort drin«, sagte er.
Abu Dun nickte. Er sagte nichts.
»Vielleicht wäre es besser, wenn ...« Andrej zögerte einen Moment und setzte dann mit festerer Stimme noch einmal an: »Vielleicht sollte ich besser allein gehen.«
Abu Dun grinste. »Hast du Angst, ich könnte etwas sehen, was mir schadet?«, fragte er.
»Vielleicht«, antwortete Andrej ernst.
»Nein«, erwiderte Abu Dun grimmig. »Wir gehen beide dort hinein oder keiner.« Sein Grinsen wurde breiter und erinnerte für einen winzigen Moment wieder an den alten Abu Dun, den Andrej kannte. »Glaubst du, ich habe Lust, mir die nächsten fünf Jahre die Geschichten deiner ausgedachten Heldentaten anhören zu müssen? Auch meine Geduld kennt Grenzen, Hexenmeister.«