»Du ... hasst mich. Ich kann das ... verstehen. Ich habe versucht, dich umzubringen, und ... und deshalb kannst du mir ... nicht helfen. Ich ... ich wusste nicht, wer ... wer du bist.«
»Das hätte damit nichts zu tun«, widersprach Andrej, aber Birger schien seine Worte gar nicht gehört zu haben.
»Ich bitte ... nicht für ... mich«, fuhr er stockend fort. »Töte mich, wenn es deinen Rachedurst ... befriedigt. Töte mich oder ... oder sieh zu, wie ... wie ich sterbe. Aber rette die anderen. Rette ... rette meine Tochter.«
Andrej starrte entsetzt auf das zitternde, kaum noch lebendig zu nennende Fellbündel, vor dem er kniete. »Das ist Imret?«, keuchte er.
»Sie ... sie ist unschuldig«, fuhr Birger fort. »Ich habe den Tod ... verdient, aber sie hat... dir nichts getan. Rette sie. Sie ... sie ist von deinem Blut.«
»Was sagst du da?« murmelte Abu Dun.
»Wir alle sind von ... von deinem Blut«, stammelte Birger. »Du bist wie wir. Aber du ... du wirst leben. Du weißt, wie ... wie man den zweiten Tod ... überwindet. Rette meine Tochter, ich flehe dich an!«
Der Kloß in seinem Hals war wieder da, härter und bitterer als zuvor. Plötzlich fiel es auch' Andrej schwer, zu sprechen.
»Es tut mir Leid«, flüsterte er. »Aber ich kann das nicht. Ich würde es tun, wenn ich es könnte, aber ich weiß nicht, was ich tun kann.«
Birger wimmerte. Andrej konnte sehen, wie auch noch das letzte bisschen Kraft aus seinem Körper wich und er ein zweites Mal und endgültig in sich zusammensackte.
»Dann erweise uns eine letzte Gnade und töte uns, Bruder«, krächzte er. »Lass uns ... lass uns nicht qualvoll sterben.«
Andrej schloss die Augen, nickte und legte die Hand auf den Schwertgriff, aber die Waffe schien plötzlich in ihrer ledernen Umhüllung festgewachsen zu sein. Es gelang ihm nicht, sie zu ziehen.
»Ich kann es nicht«, sagte er. »Bitte verzeih mir, Birger. Aber ich kann nicht.«
Er atmete tief und hörbar ein und aus. »Aber ich werde bei euch bleiben, bis es vorbei ist.«
Es wurde Morgen, bevor Andrej so weit war, sein Versprechen zur Gänze einzulösen. Birger war nach einer Stunde gestorben, und fast zur gleichen Zeit auch die anderen, aber der Todeskampf des bemitleidenswerten Geschöpfes, das noch vor wenigen Tagen seine zwölfjährige Tochter gewesen war, dauerte fast bis zum Sonnenaufgang. Vielleicht war es Zufall, vermutlich aber die Grausamkeit des Schicksals, das ihr nicht nur dieses unsagbare Leid angetan hatte, sondern ihr auch die Kraft und Zähigkeit der Jugend gab, mit der sie bis zum allerletzten Moment gegen das Unausweichliche kämpfte.
Die Feuer waren längst heruntergebrannt und erloschen, aber von irgendwoher kam Licht, ein flackernder grauer Schein, der alle Farben auslöschte und fast noch unheimlicher war als das rote Blutlicht der Feuer. Draußen musste bereits wieder heller Tag geworden sein, als sich Imret ein letztes Mal aufbäumte und einen gellenden Schrei ausstieß, um dann endgültig zu erschlaffen.
Andrej atmete hörbar auf, als der Kopf des Mädchens zum letzten Mal in seinen Schoß sank. Neben ihm regte sich auch Abu Dun; zum ersten Mal seit Stunden, wie es ihm vorkam.
»Es ist vorbei.«
»Allah sei Dank!«, sagte Abu Dun grimmig. »Ich wusste nicht, dass du so grausam sein kannst.«
»Grausam?«
»Ich hätte es nicht mehr lange mit angesehen«, antwortete Abu Dun. »Warum hast du den Wunsch ihres Vaters nicht erfüllt und ihre Leiden beendet?«
Andrej kannte die Antwort auf diese Frage. Tatsächlich war seine Hand im Laufe der Nacht mehr als einmal wie von einem eigenen Willen beseelt zum Gürtel gekrochen und hatte sich um den Schwertgriff gelegt, aber jedes Mal hatte er den Arm wieder zurückgezogen, ohne die Waffe zu ziehen. Das Mädchen hatte sich mit dem Tod einen unglaublichen Kampf geliefert, und jedes Mal, wenn sich ihr Körper erneut aufbäumte, jedes Mal, wenn sie dem Tod erneut getrotzt und einen weiteren qualvollen Atemzug genommen hatte, war die wahnsinnige Hoffnung in Andrej stärker geworden. Die Hoffnung, dass sie es am Ende vielleicht doch schaffen könnte, dass etwas in ihr stärker war als das grausame Schicksal, das ihr ein zweites Leben geschenkt hatte, nur um es ihr nach kurzer Zeit erneut zu nehmen.
»Ich verstehe das nicht«, sagte Abu Dun kopfschüttelnd. »Das können nicht die Ungeheuer sein, vor denen Vater Ludowig und die gesamte Heilige Römische Inquisition zittern, oder?«
Andrej schwieg. Abu Dun hatte nur ausgesprochen, was er die ganze Zeit über gespürt hatte, auch wenn dieser Gedanke noch nicht so klar formuliert gewesen war. Trotz der nur schwachen Beleuchtung konnte er die Höhle weit genug übersehen, um zu erkennen, dass dies nicht einmal die schrecklichen Ungeheuer waren, vor denen Trentklamm zitterte. Er sah die kümmerlichen Überreste eines halb verhungerten Kaninchens, das wahrscheinlich schon zu Lebzeiten zu schwach gewesen war, um davonzulaufen, einen ausgerissenen Strauch, an dem noch ein paar kümmerliche Beeren hingen ... Diese bemitleidenswerten Kreaturen waren kaum in der Lage gewesen, sich auf den Beinen zu halten. Sie hätten es sicherlich nicht geschafft, einer ausgewachsenen Kuh ein Bein auszureißen oder Vater Ludowig so zuzurichten, wie sie ihn gefunden hatten.
Andrej stand auf. Auch Abu Dun erhob sich und sah ihn auffordernd an, aber Andrej machte keine Anstalten, sich herumzudrehen und zum Ausgang zu gehen, sondern starrte weiter aus blicklosen Augen ins Leere.
»Wir können sie nicht begraben«, sagte Abu Dun nach einer Weile.
»Ich weiß«, antwortete Andrej. Der Gedanke, die Toten einfach hier liegen zu lassen, war ihm zuwider, aber sie hatten keine andere Wahl; sie verfügten weder über die Zeit noch über die notwendigen Werkzeuge, um die Toten zu begraben.
»Und was machen wir jetzt?«, fragte Abu Dun, als Andrej wieder schwieg.
»Was wir jetzt machen?« Andrej wusste genau, was Abu Dun meinte. Aber er wollte nicht sprechen. Begriff der Nubier denn nicht, dass er im Moment überhaupt nichts tun wollte?
»Wir können unserer Wege gehen«, antwortete Abu Dun. Er machte eine ausholende Handbewegung. »Unsere Aufgabe ist erfüllt. Thobias wollte, dass die Ungeheuer vernichtet werden. Sie sind vernichtet.«
»Diese bemitleidenswerten Geschöpfe sind tot«, antwortete Andrej. »Das Ungeheuer ...« Er schüttelte den Kopf. »Nein.« Widerwillig drehte er sich um und sah Abu Dun an. »Ich fürchte, du irrst dich, mein Freund. Es ist noch nicht vorbei.«
Abu Dun runzelte die Stirn. »Du meinst... ?«
»Ich meine, dass hier irgendetwas nicht stimmt«, sagte Andrej lauter. »Sieh dich doch um! Du glaubst doch auch nicht, dass das hier die blutgierigen Bestien sind, die seit Wochen die Menschen in Trentklamm in Angst versetzen und das Vieh auf der Weide reißen?«
»Sie waren krank«, gab Abu Dun zu bedenken. »Das muss nicht immer so gewesen sein. Und gestern haben sie uns angegriffen.«
»Aus Verzweiflung«, antwortete Andrej heftig. »Sie hatten Angst, das ist alles. Hier stimmt etwas nicht, Abu Dun. Bruder Thobias hat sich entweder geirrt...«
»... oder er hat uns belogen«, führte Abu Dun den Satz zu Ende. Er grinste kalt.
»Obwohl ich mir das eigentlich nicht vorstellen kann. Ich meine: Er ist ein Mann der Kirche. Die erwählten Verkünder des göttlichen Willens würden doch niemals absichtlich die Unwahrheit sagen, oder?«
Sein Zynismus - so vertraut er ihm auch war - brachte Andrej schier zur Raserei. Als er auch diesmal nicht antwortete, geschah es aus dem einzigen Grund, dass er Abu Dun sonst beschimpft hätte.
»Du willst also wirklich zurück nach Trentklamm?«, fragte Abu Dun kopfschüttelnd. »Warum? Rechnest du damit, dass sie uns dankbar sein werden?«
Vermutlich konnten sie froh sein, wenn man ihnen nicht auf der Stelle die Kehlen durchschnitt, dachte Andrej bitter. Laut sagte er: »Willst du die Menschen im Ort einfach ihrem Schicksal überlassen? Du weißt, was mit ihnen geschieht, wenn Vater Benedikt mit der Inquisition hier auftaucht.«