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»Und?«, fragte Abu Dun hart. »Ich bin ihnen nichts schuldig.«

»Das ist deine Entscheidung«, erwiderte Andrej kühl. Er hob die Schultern.

»Draußen geht die Sonne auf. Wenn wir uns beeilen, können wir noch vor Sonnenaufgang wieder in Trentklamm sein. Du musst nicht mit kommen, wenn du nicht willst.«

»Und dich allein in dein Unglück laufen lassen?«, schnaubte Abu Dun.

»Wenn ich dich länger als eine Stunde unbeobachtet lasse, machst du doch wieder nur irgendwelchen Unsinn.«

»Versuch's nicht, mein Freund«, sagte Andrej leise.

»Was soll ich nicht versuchen?«

»Mich aufzuheitern.«

»Wer sagt, dass ich das vorhabe?«

Gegen seinen Willen musste Andrej lächeln. Er führte das Geplänkel nicht weiter fort, sondern ging an Abu Dur vorbei zum Gang, blieb aber noch einmal stehen, bevor er die Höhle verließ. Selbst seine übermenschlichscharfen Augen sahen nicht mehr als ein Durcheinander aus Schatten und Umrissen, aber mehr musste er auch nicht erkennen. Er würde den Anblick nie wieder in Leben vergessen.

»Du hast dein Versprechen nicht vergessen?«, fragte Andrej leise »Unsinn«, sagte Abu Dun. »Dir wird nichts geschehen. Du bist unsterblich, hast du das schon vergessen ?«

»Das dachten Birger und die anderen auch«, antwortete Andrej leise. »Ich will nicht enden wie sie, Abu Dun.«

»Das wirst du auch nicht«, erwiderte Abu Dun. »Du wirst nichts spüren, das verspreche ich dir.« Er gab sich einen sichtbaren Ruck. »Schon, weil ich dir gar nichts antun werde. Und jetzt komm. Wir haben noch einen langen Weg vor uns.«

Ganz wie Andrej befürchtet hatte, gestaltete sich der Rückweg deutlich schwieriger als der Aufstieg. Sie brauchten länger als bis zur Mittagsstunde, um wieder zur Schattenklamm hinabzuklettern. Unten angekommen waren beide so erschöpft, dass sie eine ganze Weile rasten mussten, ehe sie wieder genug Kraft gesammelt hatten, um ihren Weg fortzusetzen.

Am Eingang der Schattenklamm angelangt, erlebten sie eine unangenehme Überraschung: Die Pferde waren nicht mehr da.

»Genau das habe ich befürchtet«, nörgelte Abu Dun. »Und was machen wir jetzt?«

Andrej zuckte als Antwort nur mit den Schultern. Wieso war er eigentlich überrascht? Er hatte nicht ernsthaft erwarten können, dass die Pferde hier warten würden, bis sie irgendwann zurückkommen würden. Sie hatten sich nicht einmal die Mühe gemacht, die Tiere anzubinden.

Er hob noch einmal die Schultern. »Was sollen wir schon tun? Wir gehen zu Fuß.«

»Dann erreichen wir Trentklamm heute nicht mehr. Jedenfalls nicht vor Einbruch der Dunkelheit.«

»Und ganz bestimmt nicht, wenn wir hier herumstehen und reden.«

Andrej ging mit schnellen Schritten voran, noch bevor Abu Dun auch nur die Möglichkeit hatte zu antworten. Er mahnte sich selbst zur Mäßigung.

Abu Dun hatte seine Anordnungen bisher mit Gleichmut ertragen, aber auch seine Geduld musste Grenzen kennen. Er hatte nicht das Recht, den Nubier für etwas zu bestrafen, woran diesen keine Schuld traf.

Für die Strecke, die sie zu Pferde in weniger als einer Stunde zurückgelegt hatten, brauchten sie zu Fuß ein Mehrfaches dieser Zeit. Es begann zu dämmern, als sie die Alm erreichten. Selbst wenn sie stramm durchmarschierten, würden sie Trentklamm erst weit nach Mitternacht erreichen. Andrej entschied sich dafür, in der Almhütte zu übernachten.

Abu Dun schwieg zu diesem Vorhaben, aber man musste keine Gedanken lesen können, um zu erkennen, wie wenig ihm die Vorstellung behagte - so wenig, wie Andrej selbst. Aber sie waren beide erschöpft und am Ende ihrer Kräfte. Sie brauchten eine Rast und einen Ort, an dem sie wenigstens ein paar Stunden schlafen konnten.

Die Hütte war verlassen. Jemand hatte Ludowigs Leichnam fortgeschafft und die schlimmsten Kampfspuren beseitigt, aber Andrej kam es vor, als könne er den Gestank von Blut und Gewalt noch deutlich riechen. Seine Sinne offenbarten ihm noch mehr: Zwei, vielleicht sogar drei Männer waren hier gewesen, um Vater Ludowig zu holen. Es konnte noch nicht lange zurückliegen. Einer von ihnen hatte draußen hinter der Hütte gegen die Wand uriniert, und ein anderer hatte ganz leicht nach Weihrauch gerochen. Vielleicht war es Bruder Thobias gewesen. Es war unheimlich, aber Andrej konnte sogar sagen, wie lange sie sich in der Hütte aufgehalten hatten.

Wohlweislich erwähnte er Abu Dun gegenüber nichts davon. Stattdessen bedeutete er dem Nubier, das einzige, unbequeme Bett in der fensterlosen Hütte für sich zu nehmen und erstickte seinen Widerspruch mit der Ankündigung, dass er ohnehin noch nicht müde sei und bis Mitternacht draußen Wache halten würde. Der Nubier wusste so gut wie Andrej, dass er nichts dergleichen vor hatte, aber er beließ es bei einem Kopfschütteln und war eingeschlafen, noch bevor er sich ganz auf der Pritsche ausgestreckt hatte.

Andrej verließ die Hütte, entfernte sich ein paar Schritte und ließ sich mit untergeschlagenen Beinen ins Gras sinken, um dem Sonnenuntergang zuzusehen. Im Gegensatz zu dem, was er Abu Dun gegenüber behauptet hatte, war er furchtbar müde - und zugleich von einer kribbelnden Unruhe erfüllt, die es ihm fast unmöglich machte, still zu sitzen.

Nach einer Weile legte er den Kopf in den Nacken und sah in den Himmel hinauf. Die Sonne war mittlerweile vollkommen untergegangen, aber es war nicht wirklich dunkel geworden. Der Mond war am wolkenlosen Himmel zu einer nahezu perfekten Scheibe geworden; morgen Nacht würde Vollmond sein. Ob die Unruhe und die fremdartige, erschreckende Gier, die er verspürte, damit zu tun hatten?

Andrej merkte nicht, dass sich seine Lippen zu einem bitteren Lächeln verzogen. Er hatte immer geglaubt, dass es nichts gäbe, was ihn erschrecken könnte, und nichts, was er wirklich fürchtete - und nun tat er alles in seiner Macht Stehende, um die Augen vor einer Wahrheit zu verschließen, die sich so überdeutlich offenbart hatte, dass auch Abu Dun sie längst erkannt hatte. Es hatte alles mit dem Mond zu tun.

Er hob die Hand, hielt sie ins Mondlicht und betrachtete die feinen Härchen auf seinem Handrücken, die im kalten Licht der Nacht schimmerten wie Spinnweben aus Silber. War die Behaarung dichter geworden?

Nein!, entschied Andrej. Ihm wuchsen auch keine spitzen Ohren, und er musste auch nicht die Hand heben und sein Kinn betasten, um sich davon zu überzeugen, dass sich sein Gesicht noch nicht in eine spitze Wolfsgrimasse verwandelt hatte. So einfach war es nicht.

Er würde sich gewiss nicht in eine missgestaltete Wolfskreatur verwandeln, und er würde auch nicht den Mond anheulen und nachts Schafe auf den Weiden reißen. Was mit ihm geschah, war viel schrecklicher. Das Ungeheuer hatte ihn verändert, entweder als es ihn verletzt hatte, oder als er dessen Seele in sich aufgenommen und seine Lebenskraft verzehrt hatte, und diese Veränderung war noch immer nicht abgeschlossen. Andrej wusste jetzt weniger denn je, was am Ende dieser Verwandlung stehen würde, aber er hatte entsetzliche Angst davor.

Morgen, dachte er. Morgen Nacht war Vollmond. Spätestens dann würde er erfahren, was aus ihm geworden war - und wer den Kampf damals auf dem Weg zum Kloster wirklich gewonnen hatte.

Er hörte ein Geräusch und reagierte mit einer Schnelligkeit, die ihn selbst verblüffte. Blitzschnell, dennoch lautlos, sprang er auf die Füße und huschte geduckt zur Hütte zurück. Er konnte das Geräusch noch nicht zuordnen, wusste aber sofort, dass es nicht in diese Umgebung gehörte. Es bedeutete Gefahr. Mit angehaltenem Atem presste er sich in den Schatten der Almhütte und blickte aus eng zusammengekniffenen Augen in die Richtung, aus der das verräterische Geräusch gekommen war. Es waren Hufschläge. Er hörte den Hufschlag von mindestens drei, wenn nicht vier Pferden, obwohl der jenseitige Waldrand mehr als hundert Schritte entfernt war. Metall klirrte, und er vernahm das Knarren von eingefettetem Leder. Sättel. Metallene Waffengurte und Schwertscheiden, die gegen gepanzerte Oberschenkel und die Flanken der Pferde schlugen, waren auszumachen, dazu das Brechen von Zweigen. Nur noch wenige Augenblicke und die Reiter würden die Alm erreicht haben. Aber wenn er nur ein winziges Quäntchen Glück hatte, würde die Zeit reichen.