Mitternacht war längst vorüber. Er schätzte, dass kaum mehr als drei oder vier Stunden bis Sonnenaufgang blieben. Vier Stunden, in denen Trentklamm bis auf die Grundmauern niederbrennen würde. Es gab nichts, was sie dagegen tun konnten.
Aber vielleicht gab es noch ein paar Leben, die sie retten konnten.
»Du reitest zum Kloster«, sagte er. »Bruder Thobias wird bestimmt erfreut sein, dich wieder zu sehen. Aber lass ihn am Leben. Ich muss ihm ein paar sehr wichtige Fragen stellen.«
»Das werde ich nicht tun«, Abu Dun klang bestimmt.
»Thobias am Leben lassen?«
»Dich allein dort hinuntergehen lassen. Ich kenne das nun zur Genüge. Du schickst mich unter einem Vorwand fort, weil du den ganzen Spaß für dich allein haben willst. Aber diesmal falle ich nicht darauf herein.«
Andrej starrte ihn an. Abu Duns breites Grinsen hielt noch einen Moment lang an.
»Du wirst es nicht allein schaffen dort unten«, sagte er.
Andrej schwieg beharrlich weiter, und nach einem weiteren Moment begann sich Abu Duns Gesicht zu verdüstern.
Wahrscheinlich lag es nun am schwachen Licht der Nacht, aber Andrej kam es plötzlich schwärzer vor als schwarz.
»Sie werden dich töten, wenn du dort hinuntergehst«, warnte Abu Dun.
»So schnell bin ich nicht umzubringen«, antwortete Andrej.
»Ich weiß, wie zäh du bist«, erwiderte Abu Dun. »Aber du bist weder wirklich unsterblich noch unbesiegbar.« Er hob die Schultern.
»Muss ich dich daran erinnern, dass selbst ich dich schon einmal besiegt habe?«
Andrej schwieg.
»Ich verstehe«, seufzte Abu Dun. »Du willst sterben.«
»Du weißt doch, dass ich das gar nicht kann.«
»Du willst sterben, weil du Angst hast.« Abu Dun überhörte seine Antwort. »Du fühlst dich für das alles hier verantwortlich, und außerdem hast du Angst vor morgen Nacht.« Er machte eine Kopfbewegung zum Himmel. »Morgen ist Vollmond.«
»Du glaubst doch nicht etwa all diesen Unsinn, den man sich über Werwölfe erzählt?«
»So wenig, wie ich an Vampyre glaube«, sagte Abu Dun.
»Das ist...«
»... ein Unterschied?«, unterbrach ihn Abu Dun. »Ich denke nicht. Und selbst wenn - für dich ist es keiner. Du willst sterben, aber das werde ich nicht zulassen, verstehst du? Sich einfach aus dem Staub zu machen, ist feige.«
»Selbst wenn es so wäre - glaubst du, dass es mir hilft, wenn du ebenfalls umgebracht wirst?«
»Was glaubst du, wie lange ich noch lebe, ohne dich?« Abu Dun schüttelte grimmig den Kopf. »Du hattest viele Gelegenheiten, Hexenmeister. Jetzt wirst du mich nicht mehr los.«
Rasende Wut kochte in Andrej hoch. Er musste sich mit aller Macht beherrschen, um nicht herumzufahren und Abu Dun niederzuschlagen. Statt ihn anzuschreien, sagte er jedoch nur mit leiser, vor Anspannung zitternder Stimme: »Ich habe dich für klüger gehalten, Pirat. Willst du sterben?«
»Früher oder später tun wir das doch alle, oder? Abgesehen von dir vielleicht.«
»Wenn du jetzt mit mir kommst, wird es eher früher der Fall sein als später. Sehr viel früher.« Um seine Wut zu beherrschen, zwang er sich, Abu Dun mit einer vernünftigen Begründung zu überzeugen. Als ob Begründungen noch von Bedeutung gewesen wären! »Sollte der Soldat wieder zurückgekehrt sein, überlebst du nicht einmal die erste Minute.«
Abu Dun schwieg. Andrej konnte sehen, wie es hinter seinen dunklen Augen arbeitete, aber er schluckte jede Erwiderung hinunter, die ihm auf der Zunge lag.
Vielleicht sah er das, was Andrej gesagt hatte, tatsächlich ein; wahrscheinlicher aber war, dass er seine Wut spürte und genau wusste, dass jede denkbare Antwort zu einem Streit führen konnte.
»Es ist wichtig, Abu Dun«, fuhr Andrej fort. »Ich muss mit Thobias reden. Du kannst hinterher mit ihm machen, was du willst, aber ...«
»Worauf du dich verlassen kannst, Hexenmeister«, fiel Abu Dun ihm ins Wort, aber Andrej fuhr fort: »... aber ich muss ihn sprechen. Mein Leben könnte davon abhängen. Und das Leben anderer auch.«
»Dafür, dass du so sehr an deinem Leben hängst, gehst du ziemlich leichtfertig damit um«, grollte Abu Dun, zuckte zugleich aber mit den Schultern und machte sich daran, das Pferd auf dem schmalen Weg zu wenden. Es war nicht einfach.
Ebenso fiel es Andrej schwer, dem Tier, das sie am Waldrand gefunden hatten, seinen Willen aufzuzwingen. Die Pferde waren erstaunlich widerspenstig.
»Ich warte bis zum nächsten Sonnenaufgang auf dich«, sagte Abu Dun, »keinen Augenblick länger.«
Andrej nickte ihm nur zum Abschied zu. Er wartete, bis der Nubier verschwunden war, dann drehte auch er sein Pferd herum und ritt langsam weiter, hinunter ins Tal, dem brennenden Ort entgegen.
Die Stadt loderte nicht von einem Ende zum anderen, wie es vom Berg herab den Anschein gehabt hatte, aber die Zerstörung des Dorfes war dennoch weit fortgeschritten. Etwa ein Drittel der Gebäude stand in hellen Flammen oder war bereits niedergebrannt und zu rauchenden Ruinen geworden. Skelette aus schwarz gewordenen, mürben Balken, die noch immer mörderische Hitze und Gestank verströmten, oder auch nur mannshohe Aschehaufen, in denen es hier und da noch rot glühte, säumten seinen Weg. Trümmer lagen verstreut auf der schmalen Straße, die sich zwischen den Häusern hindurchschlängelte, aber Andrej fiel auf, dass es einzig Trümmer und Überreste der brennenden Gebäude waren: verkohlte Balken, hölzerne Dachschindeln und verbranntes Stroh - keine Möbelstücke, keine Kleider, keine weggeworfenen oder verlorenen Habseligkeiten, die von dem verzweifelten Versuch der Menschen kündeten, wenigstens einen Teil ihres Besitzes aus den Flammen zu retten. Was über Trentklamm gekommen war, war kein Unglücksfall gewesen.
Den ersten Toten fand Andrej, kaum dass er die Ortsgrenze überquert hatte. Der Mann lag mit ausgestreckten Gliedern mitten auf dem Weg. Er war kein Opfer der Flammen geworden, auch wenn sein Körper schlimme Verbrennungen aufwies. Was ihn getötet hatte, war jedoch zweifelsfrei der Armbrustbolzen gewesen, der zwischen seinen Schulterblättern herausragte.
Andrej machte sich nicht die Mühe, aus dem Sattel zu steigen, um den Toten zu untersuchen. Er kannte den Mann nicht, schloss jedoch aus seiner Kleidung, dass er zu den Dorfbewohnern gehört haben musste. Er konnte nichts mehr für ihn tun. Selbst ohne seine unheimlichen Instinkte hätte er auf Anhieb gesehen, dass er tot war. Nachdem ihn der Bolzen niedergeworfen hatte, waren brennendes Holz und Stroh auf ihn hinabgeregnet und hatten seine Kleider und sein Haar in Brand gesetzt und ihm weitere Wunden zugefügt, die kein Mensch hätte überleben können. Der Ausdruck auf seinem geschwärzten Gesicht verriet, dass er schnell gestorben war, ohne lange leiden zu müssen. Andrej mutmaßte, dass dies längst nicht für alle Bewohner des Dorfes galt. Spätestens jetzt wurde ihm klar, wie schrecklich sich Bruder Thobias geirrt hatte. Vater Benedikt hatte keine zehn Tage gebraucht, um zum Landgrafen und zurück zu reiten. Er war längst wieder heimgekehrt, und er war nicht allein gekommen. Andrej konnte die Spuren der Inquisition erkennen.
Wieder begann sich dumpfer Zorn in ihm breit zu machen, aber diesmal versuchte er nicht ihn niederzukämpfen. Während er langsam weiter in den Ort hineinritt, wuchs in ihm eine kalte Entschlossenheit, Benedikt und die Männer, die mit ihm gekommen waren, zu töten. Sie hatten kein Recht, so etwas zu tun. Niemand hatte das Recht.
Plötzlich wurde ihm deutlich, was er gerade gedacht hatte, und ein eisiger Schauer lief ihm über den Rücken. Sein Zorn war verständlich, aber es war noch gar nicht so lange her, da hatte ein anderes Dorf gebrannt, auf der anderen Seite der Berge und in einem anderen Land, aber aus demselben Grund. Wer war er, dass er sich anmaßte, entscheiden zu können, was richtig war und was falsch?
Vielleicht war diese Frage falsch gestellt. Vielleicht musste sie lauten: Wer war er geworden?