»Nein«, antwortete Andrej wahrheitsgemäß. »Aber ich war dabei, als er starb.«
Er wich einen halben Schritt zurück, um nicht in unmittelbarer Reichweite des Soldaten zu sein, falls dieser überraschend aufspringen sollte, und zog nun sein eigenes Schwert. Die Blicke des Mannes streiften kurz die Waffe, ehe sie sich wieder auf sein Gesicht richteten. Andrej sah, wie er vorsichtig die Muskeln anspannte und versuchte, die Beine auf eine Art anzuwinkeln, die nicht sofort auffiel.
»Wer bist du?«, fragte der Soldat noch einmal. »Was willst du hier?«
Andrej seufzte. »So geht das nicht, mein Freund«, sagte er. »Du stellst mir nur Fragen. Aber du gibst keine Antworten.« Vorsichtig ließ er sich in die Hocke sinken und streckte das Schwert vor. Er hatte nicht vor, ihn zu treffen, aber der Mann prallte erschrocken zurück. »Ich schlage vor, du fängst damit an, meine Fragen zu beantworten.«
»Du bist tot, Teufel«, zischte der Soldat. Seine Stimme zitterte vor Wut, immer noch nicht vor Furcht. Er hatte keine Angst, sondern wartete nur auf eine Gelegenheit, sich zur Wehr zu setzen. Andrej konnte all dies in seinen Blicken lesen, aber viel deutlicher noch konnte er es riechen. Er musste vorsichtig sein.
Wenn er den Mann töten musste, dann schnell. Der Wolf in ihm begann immer stärker zu erwachen. Er durfte ihm kein Blut zu schmecken geben.
»Ich will dir nichts antun«, sagte er ruhig. Er zog das Schwert zurück, zögerte einen winzigen Moment und schob es dann in den Gürtel. Der Soldat hielt dies vermutlich für einen Fehler, aber für Andrej war es überlebenswichtig. Die Dunkelheit in ihm wurde machtvoller.
»Beantworte meine Fragen, und ich lasse dich am Leben.«
»Du bist von Sinnen«, antwortete der Soldat. Er lachte hässlich. »Du wirst sterben, ganz egal, mit welchem Teufel du im Bunde bist. Du bist schon tot. Wir werden dich vernichten. Dich und deine Teufelsbrut.«
»Weil ihr so viele seid?«
»Genug für dich«, entgegnete der Soldat. Jede Spur von Furcht war aus seiner Stimme gewichen, jetzt, da Andrej das Schwert eingesteckt hatte. »Wir haben dieses Teufelsnest ausgebrannt, und du wirst ebenfalls brennen.«
»Wir? Du gehörst zu den Leuten des Landgrafen?«
Der Soldat richtete sich erneut auf. Die Bewegung war langsam, aber sehr zielgerichtet. Andrej wollte nicht mit ihm kämpfen, aber er spürte, dass er es musste. Einer von ihnen würde diesen Ort nicht lebend verlassen. Langsam stand auch er auf und verschränkte die Arme vor der Brust.
»Geh«, sagte er ruhig. »Steig auf dein Pferd und reite davon, dann bleibst du am Leben.«
Statt zu antworten, stieß der Soldat ein wütendes Knurren aus und stürzte sich auf ihn. Andrej empfing ihn auf die gleiche Art wie das erste Maclass="underline" mit einem Fußtritt in die Weichteile. Aber damit hatte der Soldat gerechnet. Mit einer blitzschnellen Bewegung fing er Andrejs Fuß ab und drehte ihn mit einem Ruck herum, der seinen Knöchel gebrochen hätte, hätte Andrej nicht genau das erwartet und sich herumgeworfen.
Er beließ es nicht bei einer halben Drehung. Für einen Sekundenbruchteil lag sein Körper nahezu waagerecht in der Luft, dann stieß er mit dem linken Bein zu und rammte dem Soldaten den Fuß mit solcher Gewalt ins Gesicht, dass sein Kiefer brach. Der Soldat kippte mit einem gurgelnden Schrei um, schlug die Hände vor das Gesicht und begann zu wimmern, während Andrej mit einer fast anmutig erscheinenden Rolle wieder auf die Füße kam und über ihm war, noch bevor er wirklich begriff, wie ihm geschah.
»Ich sage es noch einmal«, sagte Andrej mit leiser, mühsam beherrschter Stimme. Geh!, dachte er verzweifelt. Steig auf dein Pferd und geh! Ich will dich nicht töten. Ich darf es nicht. »Steig auf dein Pferd und verschwinde, so lange du es noch kannst!«
Der Soldat kämpfte sich taumelnd auf die Füße. Sein Gesicht war zu einer verzerrten, blutigen Fratze geworden, in seinen Augen loderte der Wahnsinn. Er hatte nicht gehört, was Andrej sagte. Blut lief in Strömen aus seinem zerschmetterten Mund, und Andrej sah, dass ihm mehrere Zähne fehlten. Er musste allein vor Schmerzen fast verrückt werden. Aber er gehörte nicht zu den Männern, die aufgaben, wenn sie begriffen, dass ein Kampf verloren war.
Dennoch versuchte es Andrej. Als der Soldat heranstürmte, steppte er zur Seite und ließ ihn über sein vorgestrecktes Bein stolpern. Während der Angreifer fiel, rammte er ihm den Ellbogen in den Nacken. Der Soldat stürzte mit weit vorgestreckten Armen zu Boden und schlitterte meterweit davon. Bleib liegen!, dachte Andrej fast verzweifelt. Bleib in Gottes Namen liegen!
Sein Gebet wurde nicht erhört. Der Soldat stemmte sich wimmernd in die Höhe, spuckte Blut und Zähne und versuchte sich zu ihm herumzudrehen.
Andrej hämmerte ihm die Faust gegen die Schläfe, war mit einem Satz hinter ihm und schlang dem Mann den Arm um den Hals, bis dieser in seinem Griff zusammensackte. Eine schnelle Drehung, ein Ruck, und es wäre vorbei gewesen. Zweifellos hatte der Mann den Tod verdient. Aber er wollte ihn nicht töten; noch immer nicht. Er durfte es nicht. Wenn er jetzt Blut vergoss, dann hatte der Wolf in ihm gewonnen.
Der Mann regte sich nur noch schwach, aber er bewegte sich, und das Schicksal war grausam genug, ihn nicht das Bewusstsein verlieren zu lassen, was ihm möglicherweise das Leben gerettet hätte. Seine Sinne klärten sich rasch. Er bäumte sich in Andrejs Griff auf und schlug ziellos nach hinten. Andrejs Fingernägel schrammten über die Wange des Soldaten und hinterließen vier brennende Spuren aus blutigem Schmerz, und etwas in Andrej ... zerbrach.
Blut. Er roch das Blut des Mannes und spürte seinen Schmerz, und der Wolf in ihm stürzte sich mit einem gierigen Heulen auf die hilflose Beute, fegte den jämmerlichen Rest von Andrejs freiem Willen davon und übernahm endgültig die Kontrolle.
Es war wie in jener Nacht vor dem Kloster, nur hundertmal schlimmer. Er wusste nicht, was er tat und wie lange es dauerte, aber die Schreie des Soldaten hallten lange, endlos lange und unmenschlich schrill über die Straße, und als es vorbei war, lebte der Mann immer noch, aber er konnte nicht mehr schreien. Alles, was er hervorbrachte, war ein gurgelndes Röcheln.
Entsetzt von seinem eigenen Tun sprang Andrej hoch und prallte zwei taumelnde Schritte zurück. Seine Hände waren voller Blut. Sein Mund war voller Blut, aber die Gier in ihm war noch immer nicht gestillt, sondern schien mit jedem Herzschlag schlimmer zu werden. Der grausige Trank hatte seinen Durst nicht gestillt, sondern ihn noch geschürt. Was hatte er getan? Gott im Himmel, was war aus ihm geworden?
»Töte ... mich«, stöhnte der Soldat. »Ich flehe dich ... an. Hab Er ... barmen! Töte ... mich.«
Andrej starrte ihn an. Der winzige, menschlich gebliebene Teil in ihm krümmte sich vor Entsetzen, als er sah, was er dem Mann angetan hatte, aber der Wolf triumphierte. Er trank den Schmerz des Mannes, labte sich an seinem Leid und seinem Sterben, und er hinderte Andrej daran, seine Fassungslosigkeit abzuschütteln und dem Sterbenden die letzte Gnade zu erweisen und ihn von seiner Pein zu erlösen.
»Töte ... mich«, gurgelte der Sterbende. »Hab ... Erbarmen.«
»Das werde ich nicht tun«, antwortete Andrej kalt. »Aber ich lasse dir deine Seele, wenn du mir sagst, wie viele ihr seid und wo ich die anderen finde.«
»Zwan ... zig«, stöhnte der Soldat. »Wir sind ... zwanzig. Dazu der ... der Inquisitor und Vater Benedikt.«
»Der Inquisitor?« Andrej trat wieder auf den Soldaten zu und streckte die Hände aus. »Wer ist er? Wo finde ich ihn? Sprich, oder ich fresse deine Seele!«
Das konnte er nicht. Andrej, der Vampyr, hätte es vielleicht gekonnt, aber das ... Ding, in das er sich verwandelt hatte, hatte keine Verwendung für eine Seele. Es wollte Blut, das war sein Lebenselixier. Der Sterbende bäumte sich auf und versuchte vor ihm davonzukriechen, aber sein zerschundener Körper hatte nicht mehr die Kraft dazu.