»Was sollte er schon ausrichten können?«, fragte Thobias. Er fand seine Beherrschung rasch wieder, und als er weitersprach, lächelte er sogar. »Und wer würde ihm glauben? Mach dir keine Sorgen. Morgen Nacht, wenn der Mond aufgeht, wird jeder begreifen, dass der Teufel in Trentklamm stärker ist denn je.«
Er seufzte, drehte sich halb herum und sah für einen Moment so genau in Andrejs Richtung, dass dieser davon überzeugt war, dass er seine Anwesenheit entdeckt hatte. Aber dann irrte sein Blick weiter und blieb schließlich auf Benedikts Gesicht hängen. »Bis dahin haben wir noch viel zu tun. Und nur noch sehr wenig Zeit.«
Nichts von alledem, was Andrej gehört hatte, schien irgendeinen Sinn zu ergeben. Er war noch immer bestürzt über die Erkenntnis, dass Thobias ganz offensichtlich vorhatte, Abu Dun und ihn für die unheimlichen Vorfälle der letzten Tage verantwortlich zu machen - aber er konnte ihn sogar verstehen. Abu Dun und er waren Fremde für ihn, und wenn er die Wahl hatte, sie zu opfern, um das Leben der Menschen hier zu retten, dann konnte er gar nicht anders entscheiden.
Andrej wartete, bis Thobias und Vater Benedikt den Raum verlassen hatten, dann versuchte er, die Tür zu öffnen.
Es ging nicht.
Die Tür war verschlossen. Andrej zwängte die Finger in den schmalen Spalt zwischen den Brettern und zog mit aller Kraft. Das Holz knirschte, hielt dem Druck aber Stand, und als er sich in die Hocke sinken ließ und die Tür genauer untersuchte, sah er den Schatten eines wuchtigen Riegels, der von der anderen Seite vorgelegt war. Es gab keine Hoffnung, sie gewaltsam aufzubrechen - jedenfalls nicht, ohne dass der Lärm jeden alarmiert hätte, der draußen in der Kirche war.
Andrej richtete sich auf, trat einen Schritt zurück und zwang sich, seine Möglichkeiten in aller Ruhe abzuwägen. Es waren nicht besonders viele.
Er verstand noch nicht das ganze Ausmaß dessen, was er gerade gehört hatte, doch ihm wurde klar, dass nichts so war, wie er bisher geglaubt hatte.
Thobias hatte ihn anscheinend von Anfang an belogen - aber warum?
Hätte Andrej es nicht besser gewusst, dann wäre er spätestens, nachdem er das Gespräch von Thobias und Benedikt gehört hatte, überzeugt gewesen, dass dieser alles in seiner Macht Stehende tat, damit der Inquisitor Trentklamm auslöschte.
Er verscheuchte den Gedanken. Vielleicht hatte Abu Dun von Anfang an Recht gehabt, und das alles hier ging sie nichts an. Aber dazu war es jetzt zu spät.
Es überraschte ihn nicht, dass Abu Dun erneut in Gefangenschaft geraten war. Er hatte nicht damit gerechnet, dass der Nubier sein Wort halten und oben am Kloster auf ihn warten würde. Vermutlich hatte er einfach abgewartet und war dann umgekehrt, um ihm zu folgen. Wenn Andrej überrascht war, dann darüber, dass die Soldaten nur zwei Männer bei dem Versuch, Abu Dun zu überwältigen, verloren hatten. Offensichtlich war der Nubier noch lange nicht wieder im Vollbesitz seiner Kräfte.
Abu Dun würde in einer halben Stunde hier sein, und Thobias schien daran interessiert zu sein, den Inquisitor in Trentklamm ein Blutbad anrichten zu lassen. Und er war in diesem Glockenturm gefangen, so zuverlässig und sicher, wie es Abu Dun in Thobias' Kerker gewesen war. Andrej sah nach oben, musterte die glatt verputzen Wände des Glockenturmes mit wachsender Ungeduld und griff schließlich nach dem Glockenseil. Ein kurzer Zug reichte, um den Klöppel in Bewegung zu setzen.
Das Ergebnis war ein dumpfes, lang anhaltendes und überraschend lautes Dröhnen, das in dem engen gemauerten Schacht fast schmerzhafte Lautstärke erreichte. Andrej ließ das Seil los, überlegte es sich dann anders und zog noch einmal daran. Während er weiterläutete, wurden draußen aufgeregte Stimmen laut, polternde Schritte näherten sich. Andrej löste die Hand vom Seil, drehte sich um und verschränkte die Arme vor der Brust. Er hörte Schritte von mindestens zwei, vielleicht drei Männern, dann wurde die Tür aufgestoßen, und derselbe aufgeregte Soldat stürmte herein, der gerade mit dem Inquisitor gesprochen hatte.
»Ich bitte um Verzeihung, wenn das frühe Glockengeläut stören sollte«, sagte Andrej lächelnd, »aber ich bin auf der Suche nach einem Freund. Sein Name ist Abu Dun, und er ist ziemlich groß und ziemlich schwarz. Habt ihr ihn gesehen?«
Er erwachte in vollkommener Dunkelheit. Wie immer, wenn er wirklich schwer verletzt worden war, hatte er im ersten Moment Mühe, sich zurechtzufinden. Es fühlte sich an wie das Auftauchen aus einem tiefen, klaren und unendlich kalten See, auf dessen Grund etwas Unsichtbares lauerte, das ihn wieder in die Tiefe zu ziehen versuchte - nicht mit Gewalt, sondern mit der flüsternden Stimme des Versuchers. Manchmal war es schwer, ihr zu widerstehen, und manchmal fast unmöglich. Während er allmählich dem heller werdenden Licht hoch über sich entgegenglitt, verspürte er eine Müdigkeit, wie er sie nie zuvor empfunden hatte. Keine körperliche Schwäche, sondern etwas, das schlimmer war; die Frage: Warum das alles. Es wäre so leicht, einfach aufzugeben und sich der Verlockung zu stellen, die am Grunde der großen Dunkelheit lauerte, die er so oft betreten, aber noch nie vollends erforscht hatte.
Der Grund, aus dem er sich auch jetzt entschloss, den ewigen Kampf wieder aufzunehmen und dem Tod erneut zu trotzen, war die Schwärze, die ihn umgab.
Sie erinnerte ihn an etwas.
Abu Dun.
Etwas war mit Abu Dun passiert. Er musste etwas für ihn tun, für ihn und die Menschen hier. Er wusste nicht mehr was oder gar warum, aber der Gedanke war stark genug, sich ihn wieder dem Licht zuwenden zu lassen und den langen, qualvollen Weg zur Oberfläche fortzusetzen.
Und da war noch etwas: Die Dunkelheit, durch die er glitt... enthielt etwas. Es war ein unheimliches Gefühl, völlig neu und erschreckend, und seine ganze Tiefe sollte ihm erst später zu Bewusstsein kommen, lange nachdem er wirklich aufgewacht war.
Er war nicht mehr allein.
Der große Abgrund enthielt plötzlich mehr als das letzte Geheimnis, das er noch lange nicht zu erkunden bereit war. Etwas war bei ihm, etwas Düsteres, Lauerndes und unglaublich Starkes. Es machte ihm Angst. Er schlug die Augen auf und sah im ersten Moment nichts. Völlige Dunkelheit umgab ihn, aber er hörte Geräusche und Stimmen, und der zweite, fast unerträglich starke Eindruck, den er hatte, war der süßliche Geruch von Blut, der aber seltsamerweise die unheimliche Gier in ihm nicht weckte. Er war nicht allein.
Dennoch war nichts Lebendiges an seiner Seite.
Andrej lauschte noch einen Moment, dann setzte er sich auf und betastete seinen Körper. Er spürte den breiten Riss in seinem Gewand und klebriges, erst halb eingetrocknetes Blut, was ihm bewies, dass er noch nicht lange hier liegen konnte - wo immer dieses hier war. Und Erleichterung; eine tiefere und weit größere Erleichterung, als er sich eingestehen wollte. Was er getan hatte, war riskant gewesen.
Die drei Soldaten hatten ihren Schrecken erstaunlich schnell überwunden, und sie hatten nicht anders reagiert, als Andrej erwartet hatte: Mit gezogenen Schwertern hatten sie sich auf ihn gestürzt. Manchmal, dachte er spöttisch, während er sich vorsichtig weiter in die Höhe stemmte, war es beinahe schwerer, einen Kampf zu verlieren, als ihn zu gewinnen. Zumindest, wenn man nicht wollte, dass der andere merkte, dass man absichtlich unterlag ...
Er war zwei- oder dreimal getroffen worden, bevor es ihm gelang, sich derart in die Klinge eines der Angreifer zu werfen, dass an der Tödlichkeit der Verletzung kein Zweifel mehr bestehen konnte. Als Andrejs Hände weitertasteten, spürte er auch an seinem Hals halb eingetrocknetes klebriges Blut. Obwohl er ganz eindeutig tödlich getroffen worden war, hatten die Soldaten es für nötig gehalten, ihm noch die Kehle durchzuschneiden - ein Umstand, der viel darüber verriet, wie sehr sie ihn fürchteten.
Andrej spürte einen eisigen Schauer, als ihm klar wurde, wie riskant sein Plan gewesen war. Sie hatten es dabei belassen, dem vermeintlich Toten die Kehle durchzuschneiden. Ebenso gut hätten sie auf den Gedanken kommen können, ihm den Kopf abzuschneiden, oder seinen Leichnam auf einen der Scheiterhaufen zu werfen, die draußen vor der Kirche aufgebaut waren.