Er stemmte sich weiter in die Höhe, erstarrte aber mitten in der Bewegung, als seine tastenden Finger auf etwas Weiches stießen. Angeekelt zog er die Hand zurück, schüttelte den Kopf über seine eigene, ungewohnte Schreckhaftigkeit und tastete erneut in die Dunkelheit hinein. Seine Finger fuhren über ein kaltes, erstarrtes Gesicht, rauen Stoff und etwas, das sich wie bröseliger Stein anfühlte ... Blut, das zu Schorf eingetrocknet war. Neben ihm lag ein Toter. Er war schon geraume Zeit tot, Stunden, wenn nicht Tage.
War das der Grund, aus dem sich der Wolf in ihm nicht gemeldet hatte, dachte er schaudernd? Weil die Bestie nachfrischer Beute gierte?
Andrej schüttelte den Gedanken mühsam ab, richtete sich weiter auf und drehte sich mit weit vorgestreckten Armen einmal im Kreis, um sich zu orientieren. Er war vollkommen blind, was bedeutete, dass er entweder wirklich nichts mehr sehen konnte - eine Möglichkeit, über die er lieber nicht nachdachte - oder in einem fensterlosen Raum war. Vielleicht tief unter der Erde. Hatte man ihn in die Krypta gebracht? Das hätte die Anwesenheit des zweiten Toten erklärt.
Aber diese Kirche war nicht groß genug, um eine Krypta zu haben, überlegte Andrej. Und hätte man sich die Mühe gemacht, ihn bis zum Friedhof am anderen Ende des Tales zu schaffen, wäre er unterwegs aufgewacht. Er glaubte nicht, dass er lange bewusstlos gewesen war, trotz der Schwere seiner Verletzung, denn das Blut auf seiner Kleidung war noch nicht ganz getrocknet.
Draußen war es noch immer dunkel, und der Raum, in dem er sich befand, hatte keine Fenster, so musste es sein.
Aber wo war er?
Er hörte ein Geräusch. Ein schwerer Riegel wurde scharrend zurückgeschoben, und Andrej reagierte sofort. Blitzschnell ließ er sich zurücksinken, rollte halb auf die Seite und schloss die Augen.
Der Riegel wurde vollends zurückgeschoben. Die Tür sprang mit einem Knarren auf, und Fackellicht und das Murmeln gedämpfter Stimmen drangen zu ihm herein. Andrej blieb vollkommen reglos liegen, aber er wusste trotzdem, wer zu ihm kam: Bruder Thobias, der Inquisitor und Benedikt. Vielleicht hatte er die Schritte der Männer erkannt, aber er hatte das Gefühl, dass er sie eher witterte.
Die Schritte kamen näher, und eine brennende Fackel warf rötliches Licht und unangenehm trockene Wärme auf sein Gesicht. Andrej spürte, wie sich jemand über ihn beugte und ihn musterte, und er versuchte, so flach wie möglich zu atmen. Wären der Inquisitor oder einer seiner Begleiter auf die Idee gekommen, ihn mehr als nur flüchtig zu untersuchen, so wäre seine Verstellung aufgefallen.
»Ist er das?«, fragte der Inquisitor.
»Ja.« Das war Thobias' Stimme. Sie klang ... sonderbar, fand Andrej.
Verändert. Ängstlich.
»Das also ist Andrej«, murmelte der Inquisitor. Die Fackel kam näher, und die Hitze des brennenden Holzes wurde unangenehm. Funken fielen auf Andrejs Gesicht und fraßen sich zischend in seine Haut.
»Nach allem, was Ihr mir erzählt habt, Thobias, habe ich ihn mir ... anders vorgestellt. Gefährlicher.« Die Fackel wurde zurückgezogen, und der Inquisitor fuhr nach einer Pause und mit leicht veränderter Stimme fort: »Aber der Teufel verbirgt sich oft in der Maske des Harmlosen, nicht wahr?«
»So ist es, Exzellenz«, bestätigte Thobias.
Der Inquisitor seufzte. Wärme und Licht der Fackel entfernten sich weiter von Andrejs Gesicht, und er wagte es, einen vorsichtigen Atemzug zu tun. Gebannt lauschte er weiter, während er gleichzeitig versuchte, die Geräusche zuzuordnen, die durch die offen stehende Tür hereindrangen.
»Es ist bedauerlich, dass die Soldaten ihn erschlagen haben«, sagte der Inquisitor nach einer Weile. »Ich hätte ihn gerne verhört.«
»Sie hatten vermutlich keine andere Wahl«, gab Benedikt zu bedenken. »Wie sie sagten, hat er sie angegriffen.«
»Es ist ein Wunder, dass er sie nicht alle getötet hat«, pflichtete ihm Thobias bei, »Glaubt mir, Exzellenz, ich habe diesen Mann kämpfen sehen. Ich wäre nicht erstaunt gewesen, hätte er Eure Krieger überwältigt.«
»Ich auch nicht«, sagte der Inquisitor. Etwas nachdenklicher fügte er hinzu: »Ich frage mich nur, warum er zurückgekommen ist?«
»Zweifellos, um seinen Kameraden zu befreien«, erwiderte Benedikt. »Warum sonst?«
»Und zu diesem Zweck lässt er sich im Glockenturm einsperren und läutet Alarm, damit ihn die Soldaten finden und niederstrecken?« Andrej konnte das Kopfschütteln des jungen Geistlichen beinahe sehen. »Wohl kaum.«
»Vielleicht hat er sich überschätzt«, wandte Thobias ein.
»Überschätzt?«
»Die Männer, die er im Kloster getötet hat, waren, keine wirklichen Soldaten. Es waren Bauern und Tagelöhner, die der Landgraf mit Uniformen ausgestattet und zu mir geschickt hat, um mir Schutz zu geben. Keine gut ausgebildeten Krieger wie die, die in Eurer Begleitung gekommen sind, Herr. Wenn Andrej geglaubt hat, er hätte es hier mit der gleichen Art von Männern zu tun, dann hat er eine tödliche Überraschung erlebt.«
Der Inquisitor schwieg zu diesen Worten. Schließlich entfernte er sich raschelnd einige Schritte und blieb vor der Tür noch einmal stehen. Es war Andrej unheimlich, wie genau er nur anhand von Geräuschen und Gerüchen erkennen konnte, was rings um ihn herum vorging.
»Das mag so gewesen sein«, sagte der Inquisitor seufzend. »Dennoch ist es bedauerlich, dass wir nicht mit ihm sprechen konnten. Obwohl er vermutlich ohnehin nicht geantwortet hätte, wenn er wirklich der ist, für den Ihr ihn haltet, Thobias.«
Seine Kleidung raschelte erneut, als er mit den Schultern zuckte. »Wir haben noch immer den Mohren. Ich werde hinausgehen und ihn verhören - auch wenn ich nicht glaube, dass er reden wird.« Er machte einen einzelnen Schritt und blieb wieder stehen. »Begleitet Ihr mich nicht?«
»Sofort, Exzellenz«, antwortete Thobias. »Es ist nur ...«
»Ja, ich verstehe«, sagte der Inquisitor. Seine Stimme wurde leiser, und ein Unterton von Mitgefühl lag plötzlich darin, den Andrej bei diesem Mann niemals erwartet hätte. »Ihr wollt Abschied nehmen. Das gestehe ich Euch gerne zu. Aber bedenkt, es gibt noch viele Fragen, die auf eine Antwort warten.«
Er verließ den Raum. Die Tür wurde nicht hinter ihm geschlossen, und es wurde auch nicht dunkel. Als Andrej unendlich behutsam die Augen einen schmalen Spalt öffnete, sah er, dass der Inquisitor die Fackel an Benedikt weitergegeben hatte. Sowohl er als auch Thobias blickten in seine Richtung, aber nicht direkt auf ihn, sondern auf das, was neben ihm lag. Der Leichnam, den er gespürt hatte.
»Das war riskant«, sagte Benedikt nach einer Weile und erst, als er anscheinend sicher war, dass sich niemand mehr in unmittelbarer Nähe befand, der seine Worte hätte hören können.
»Was?«, fragte Thobias. Andrej hatte die Augen wieder geschlossen, aber er konnte den verächtlichen Gesichtsausdruck des jungen Geistlichen ahnen. »Ihn darum zu bitten, dass ich noch einen Moment hier verweilen darf? Ein Inquisitor würde selbst einem verurteilten Verbrecher nicht die Gnade verweigern, ihn Abschied von seinem toten Vater nehmen zu lassen.«
Diesmal konnte Andrej ein fast unmerkliches Zusammenzucken nicht mehr verhindern. Es wurde nicht so sehr von der Erkenntnis, dass der Tote neben ihm Thobias' Vater war, verursacht. Es war die vollkommene Kälte und Gefühllosigkeit in Thobias' Stimme. Gleich, ob er sich gut mit Ludowig gestanden hatte oder nicht, dieser Mann war sein Vater gewesen. Gott im Himmel, was für ein Ungeheuer war Thobias?
»Glaub mir, ich kenne Martius. Ich war es, der ihn zur Inquisition gebracht hat, vergiss das nicht. Er ist ein harter Mann, aber er verschließt sich nicht der Logik, wie viele seiner Brüder«, sagte Benedikt.