»Und?«, fragte Thobias.
»Was ist, wenn er dir am Ende glaubt und von hier fortgeht, ohne seine Arbeit zu Ende zu bringen?«, fragte Benedikt.
»Darum sorge dich nicht«, antwortete Thobias abfällig. »Dieser Narr denkt genau das, was er denken soll. Wenn die Sonne das nächste Mal aufgeht, wird hier niemand mehr am Leben sein. Martius ist zufrieden, und wir können endlich in Frieden und Sicherheit leben.«
Er kam wieder näher. Andrej konnte spüren, wie er erst seinen toten Vater, dann ihn musterte. »Ich verstehe nicht, warum er zurückgekommen ist«, sagte er. »Ich hätte ihn für klüger gehalten.« Er seufzte, bewegte sich einen Moment unruhig auf der Stelle und wandte sich dann um.
»Ich möchte, dass du bei ihm bleibst, Benedikt. Falls er aufwacht, muss jemand da sein, der es ihm erklärt.«
Benedikt sog hörbar die Luft ein. »Du glaubst... ?«
»Nein«, sagte Thobias, noch ehe sein Onkel die Frage ganz aussprechen konnte. »Aber ich will kein Risiko eingehen. Nicht jetzt, wo wir dem Ziel so nahe sind.«
»Und was soll ich ihm sagen, wenn er erwacht?«, fragte Benedikt unsicher.
»Dir wird schon etwas einfallen«, antwortete Thobias leichthin.
»Immerhin bist du sein Bruder. Ich muss jetzt gehen. Martius wird diesen Heiden verhören, und ich fürchte, dass selbst er sich den Fragen eines Inquisitors nicht lange widersetzen kann. Wir wollen doch nicht, dass am Ende noch alles herauskommt, oder?«
»Aber ...«, begann Benedikt, brach dann aber mitten im Wort ab. Thobias' Schritte entfernten sich, und nur einen Moment später fiel eine Tür zu, nicht die des Raumes, in dem sie sich befanden, sondern weiter entfernt.
Andrej wagte es, erneut die Augen zu öffnen. Er konnte Benedikt nicht genau erkennen, sondern sah nur einen Schatten. Aber früher oder später musste er seine Maskerade aufgeben. Unendlich langsam drehte er den Kopf auf der harten Unterlage, auf der er lag.
Benedikt stand unmittelbar neben ihm, hatte ihm aber den Rücken zugedreht und sich halb über die harte Pritsche gebeugt, auf der Ludowigs Leichnam aufgebahrt war. Die brennende Fackel in seiner Hand zitterte so stark, dass der gesamte Raum von unheimlich huschenden Schatten erfüllt war. Die rasselnden Atemzügen Benedikts waren deutlich zu hören.
Andrej richtete sich langsam auf. Er brauchte mehr als eine Minute für die Bewegung, und noch einmal die gleiche Zeit, um die Beine von der Liege zu schwingen und ganz aufzustehen. Benedikt regte sich nicht, sondern starrte weiter reglos und wie gebannt auf den nackten Leichnam des alten Mannes vor sich hinab. Andrej trat vollkommen lautlos einen Schritt von der Liege weg und drehte sich herum. Dann war er mit einer einzigen Bewegung bei der Tür und warf sie zu.
Benedikt fuhr herum. Seine Augen wurden groß, und ein Ausdruck vollkommener Fassungslosigkeit erschien in seinem Blick. Dann schlug dieses Erstaunen jäh in Schrecken um.
»Aber ...«, krächzte er. »Aber das ... wie ...?«
»Nur, damit ich das richtig verstehe, Vater«, sagte Andrej spöttisch, während er die Arme vor der Brust verschränkte und sich gegen die Tür lehnte. »Ihr seid zurückgeblieben, um die Totenwache an Ludowigs Bett zu halten, und nicht etwa an meinem? Jetzt müsste ich erzürnt sein.«
Er bezweifelte, dass Benedikt seine Worte überhaupt hörte. Die Augen des grauhaarigen Geistlichen quollen vor Entsetzen schier aus den Höhlen, und sein Gesicht hatte alle Farbe verloren und war nun tatsächlich grau. Sein Blick war der eines Mannes, der allmählich begreift, dass er dem Leibhaftigen selbst gegenübersteht.
»Nein«, stammelte er. Speichel lief aus seinem Mundwinkel und hinterließ eine glitzernde Spur auf seinem Kinn, ohne dass er es bemerkte, und in seinen Augen begann der beginnende Wahnsinn zu flackern. Andrej war alarmiert. Er hatte kein Mitleid mit diesem Ungeheuer in Menschengestalt und würde ihn töten, bevor er diesen Raum verließ - aber zuvor musste er ihm noch einige Fragen beantworten. Zumindest eine.
»Teufel!«, stammelte Benedikt. »Du ... du bist der Teufel!«
»Nicht mehr als Ihr«, antwortete Andrej. »Vermutlich noch nicht einmal annähernd so sehr wir Ihr.« Er trat einen halben Schritt auf Benedikt zu, mit dem Ergebnis, dass dieser einen spitzen, halb erstickten Schrei ausstieß und so heftig zurück und gegen die Liege mit Ludowigs Leichnam prallte, dass diese bedrohlich zu wanken begann.
»Komm mir nicht zu nahe!«, wimmerte er. »Du bist tot! Du kannst nicht mehr leben!«
»Wie Ihr seht, kann ich das sehr wohl«, antwortete Andrej ruhig. »Und ich nehme an, ich bin nicht der Einzige in diesem Raum, der dieses Kunststück beherrscht. Was meint Ihr, Vater Benedikt - wollen wir herausfinden, ob Ihr ebenso schwer umzubringen seid wie ich?«
Er war mit einem einzigen Schritt bei Benedikt, riss ihm die Fackel aus der Hand und schleuderte ihn zu Boden. Der alte Mann fiel, krümmte sich und begann zu wimmern. Auf seinem Gewand erschien ein dunkler Fleck, und Gestank erfüllte den Raum.
»Ich lasse dich am Leben, wenn du mir eine einzige Frage beantwortest«, sagte Andrej. »Warum?«
Benedikt wimmerte noch lauter, und Andrej versetzte ihm einen harten Tritt in die Seite. Ein Teil von ihm empfand nichts als eine Mischung aus grenzenloser Verachtung, aber auch Mitleid mit dieser jämmerlichen Gestalt, die sich da in ihrem eigenen Schmutz vor ihm auf dem Boden krümmte, aber ein anderer, immer stärker werdender Teil genoss den Schmerz, den er dem Mann zufügte.
»Warum?«, fragte er noch einmal. »Warum das alles, Benedikt? Nur aus Grausamkeit? Waren Abu Dun und ich nur Spielbälle für euch, so wie all die Menschen hier?«
Er kannte die Antwort auf seine Fragen längst, aber er wollte sie aus Benedikts Mund hören; vielleicht weil die Erklärung, auf die er selbst gekommen war, zu ungeheuerlich klang.
»Geh!«, wimmerte Benedikt. »Geh weg! Lass mich! Du ... du kannst nicht mehr leben! Ich habe gesehen, wie du gestorben bist! Du gehörst nicht zu uns!«
Andrej senkte die Fackel. Gierige Flammen leckten nach Benedikts Hand und fraßen sich zischend in seine Haut, und plötzlich roch es durchdringend nach verbranntem Fleisch. Der Geistliche kreischte, warf sich herum und presste die verbrannte Hand gegen die Brust. Seine Schreie waren laut genug, um auch draußen gehört zu werden, aber das war Andrej gleich. Das Mitleid, das er für einen Moment empfunden hatte, war erloschen. Er spürte den Schmerz - und viel, mehr noch die Angst - des Mannes, und er sog beides mit großen, gierigen Zügen auf wie einen kostbaren Wein. Es war nicht der Vampyr in ihm, der sich am Entsetzen des Mannes labte, sondern etwas anderes, Schlimmeres. Was hatte Thobias gesagt? Wenn der Mond das nächste Mal aufgeht... Großer Gott, in was würde er sich verwandeln, wenn es so weit war?!
»Warum?«
»Wir wollen doch nur leben!«, schluchzte Benedikt. »Ist das denn ein Verbrechen?«
»Wir? Wer ist wir? Birger und die anderen, meinst du?« Andrej stocherte mit der Fackel in Benedikts Richtung, um seiner Frage Nachdruck zu verleihen, achtete aber darauf, ihn nicht noch einmal zu treffen. »Sprich!«
»Thobias«, keuchte Benedikt. »Thobias und ich. Thobias war der ... der Erste, der die Verwandlung überlebt hat. Alle anderen vor ihm sind gestorben, so wie Birger und seine Familie. Sie wären ohnehin gestorben, Andrej! Sie sterben alle. Nur Thobias hat es überlebt.«
»Und du«, sagte Andrej hart.
Benedikt schüttelte den Kopf. Er richtete sich halb auf und kroch mit kleinen, zitternden Bewegungen von Andrej fort. In seinen Augen flackerte die Todesangst. »Doch nur, weil er mir geholfen hat«, stammelte er. »Er besitzt die Macht, versteh doch! Er ... er ist etwas Besonderes.«
Ja, dachte Andrej finster. Das ist er. Ganz zweifellos. Er schwieg.
»Er hat mich gerettet«, fuhr Benedikt fort. »Ich war tot. Wie alle anderen. Ich bekam das Fieber und starb daran, aber Thobias hat mich zurückgeholt. So wie er auch seinen Vater zurückholen wird.« Er fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. Sein Blick irrte unstet zwischen Andrejs Gesicht und der Fackel in seiner Hand hin und her. »Versteh doch!«, stammelte er. »Thobias ist nicht wie ... wie Birger und all die anderen. Er besitzt Macht über den Tod! Er kann ihm trotzen! Er ... er könnte auch dir zur Unsterblichkeit verhelfen. Ich bin sicher, er würde es tun! Denke darüber nach! Du könntest Unsterblichkeit erlangen, du und dein Freund! Ihr würdet...«