Noch bevor er die Bewegung halb zu Ende gebracht hatte, erklang das peitschende Geräusch ein zweites Mal. Ein dumpfer Schlag traf seine Schulter, und der Armbrustbolzen riss ihn mitten in der Bewegung herum und nagelte ihn an die Wand. Seltsamerweise spürte Andrej in diesem Moment nicht den geringsten Schmerz, aber jegliche Kraft wich aus seinen Gliedern. Durch sein Gewicht wurde die eiserne Spitze des Geschosses knirschend aus dem Stein gelöst. Er kippte nach vorn, schlug auf das Gesicht und kämpfte zum wiederholten Male innerhalb kürzester Zeit gegen einen Sog aus wirbelnder Schwärze, der sich in seinem Inneren auftat und ihn verschlingen wollte. Plötzlich setzte der Schmerz ein. Stöhnend tastete Andrej nach seiner Schulter, schloss die Hand um den gefiederten Schaft des Geschosses und versuchte es herauszuziehen. Es gelang ihm nicht.
Schritte näherten sich, und ein harter Tritt traf seine Hand und schleuderte sie zur Seite.
»Hör auf!«
Martius hatte nicht einmal die Stimme gehoben, aber die Worte klangen so scharf, dass der Mann, der über Andrej gebeugt stand, einen halben Schritt zurückwich, statt ihn erneut zu treten. Dann fühlte sich Andrej gepackt und in die Höhe gerissen. Der Soldat warf ihn mit solcher Wucht gegen die Wand, dass ihm erneut die Luft wegzubleiben drohte. Kraftlos sank er wieder in die Knie, hatte aber dieses Mal genug Kraft, um die Augen offen zu halten. Vor ihm stand ein Soldat des Inquisitors. Es war einer der drei Männer, die ihn im Glockenturm überwältigt hatten. Er wirkte ebenso fassungslos wie zuvor Benedikt.
»Geh zur Seite! Lass ihn!«
Der Soldat trat nicht zur Seite, er floh vor Andrej, und an seiner Stelle trat Martius in Andrejs Blickfeld. Sein Gesicht wirkte ungerührt, aber sein Blick flackerte. Er hatte die linke Hand so fest um das goldene Kruzifix vor seiner Brust geschlossen, dass die Knöchel wie weiße Narben durch die Haut stachen. In der anderen Hand trug er Andrejs Schwert. Hinter ihm standen weitere Soldaten.
Einer von ihnen hatte bereits einen neuen Bolzen auf seine Armbrust gelegt und trat unruhig von einem Bein auf das andere, um in eine Position zu gelangen, aus der heraus er auf Andrej anlegen konnte, ohne den Inquisitor zu gefährden.
Auch Thobias war unter den Anwesenden. In sein Gesicht stand das blanke Entsetzen geschrieben. Aufgeregte Stimmen und polternde Schritte drangen durch die Tür hinein.
Mühsam versuchte Andrej sich aufzurichten. Die Bewegung ließ einen grässlichen Schmerz in seiner Schulter explodieren. Stöhnend hob er die Hand, presst sie auf die noch immer blutende Wunde und versuchte erneut, den Pfeil herauszuziehen.
»Unglaublich«, murmelte Martius. Er sah kopfschüttelnd auf Andrej herab, und allmählich erschien ein Ausdruck von Verwirrung auf seinen Zügen. »Das ist ...«
Hinter ihm erscholl ein überraschter Schrei, als Thobias die umgestürzte Pritsche sah, auf der zuvor sein Vater gelegen hatte. Er stürzte an Martius vorbei, fiel neben dem misshandelten Körper des alten Mannes auf die Knie und streckte die Hände nach ihm aus, schien es aber doch nicht zu wagen, ihn zu berühren.
Martius sah kurz in seine Richtung, wandte sich aber sofort wieder zu Andrej um und betrachtete ihn argwöhnisch. Wortlos trat er zurück und gab dem Soldaten einen Wink. Der Mann, der gerade damit beschäftigt war, ein neues Geschoss auf die Armbrust zu legen, spannte die Waffe zu Ende und wechselte sie von der rechten in die linke Hand, bevor er Martius' Befehl nachkam und Andrej derb in die Höhe zerrte. Der stöhnte vor - diesmal vorgetäuschtem - Schmerz und presste wieder die Hand gegen die Schulter.
»Unglaublich«, murmelte Martius noch einmal. »Das ist wirklich unglaublich.«
»Ich ... ich verstehe das nicht, Herr«, stammelte der Soldat, der unmittelbar neben ihm stand. Sein Blick flackerte unstet zwischen Andrej und dem Inquisitor hin und her. Seine Hände zitterten so stark, dass er sichtbare Mühe hatte, die Waffe, die er wieder auf Andrej gerichtet hatte, zu halten.
»Ich schwöre Euch, dass wir ihn für tot gehalten haben, Herr. Wir ...«
Martius unterbrach ihn mit einer Geste, ohne den Blick von Andrejs Gesicht zu wenden. »Schon gut«, sagte er. »Du hast dir nichts vorzuwerfen. Ich weiß, dass er tot war.« Er schwieg einen Moment. Ein nachdenklicher Ausdruck machte sich auf seinen Zügen breit. »Ich frage mich allerdings, ob er jetzt lebt ... oder ob er überhaupt jemals gelebt hat.«
Offensichtlich erwartete er eine Antwort von Andrej. Als er keine bekam, scheuchte er den Soldaten zur Seite und trat dichter an Andrej heran. Er war entweder ein sehr mutiger Mann, dachte Andrej, oder ein sehr dummer, denn in seinen Augen war keinerlei Furcht zu erkennen. Langsam hob er die Hand, schloss die Finger um den Schaft des Armbrustbolzens, der aus Andrejs Schulter ragte, und riss ihn mit einem Ruck heraus.
Andrej brüllte vor Schmerz und fiel wieder auf die Knie. Für einen Moment trübten sich seine Sinne, und der Wolf in ihm wurde übermächtig. Wut, blanke, rote Wut verschleierte sein Denken. Er verspürte ein einziges Verlangen: sich auf Martius zu stürzen und ihm das Herz aus dem Leib zu reißen.
Stattdessen presste er die Hand auf die Schulter und schob sich schwankend an der Wand in die Höhe. Es kostete ihn unendliche Überwindung, die lodernde Gier niederzukämpfen, aber es gelang ihm. Diesmal noch.
Martius betrachtete ihn aus mitleidlosen, kalten Augen, trat einen Schritt zurück und prüfte die Spitze des Armbrustbolzens mit dem Zeigefinger. »In der Tat«, höhnte er, »ein echter Pfeil. Jetzt verratet mir doch, warum Ihr keine echte Wunde habt!«
Die letzten Worte hatte er geschrien, während er gleichzeitig die Hand ausstreckte und Andrejs ohnehin zerstörtes Gewand über der Schulter weiter aufriss. Das Fleisch darunter war voller Blut, aber die Wunde begann sich bereits zu schließen; so schnell, dass Martius es sehen musste.
»Er ist der Teufel!«, keuchte Thobias. »Tötet ihn! Ihr müsst ihn verbrennen, Martius, ich beschwöre Euch! Verbrennt ihn, ehe er uns alle ins Verderben reisst!« Er lag neben Martius auf den Knien und hatte Kopf und Oberkörper seines Vaters in seinen Schoß gebettet. »Verbrennt ihn!«
»Später«, antwortete Martius kühl, während er sich bereits wieder zu Andrej umdrehte. »Der Teufel? Wenn das stimmen sollte ... gäbe es eine größere Herausforderung für einen Mann Gottes, als mit dem alten Widersacher selbst zu sprechen? Sagt, Andrej - seid Ihr der Teufel?« Er schüttelte den Kopf, trat einen weiteren halben Schritt zurück und maß Andrej mit einem neuerlichen, langen Blick von Kopf bis Fuß. »Nein. Ehrlich gesagt, glaube ich nicht, dass Ihr der Teufel seid. Aber wer seid Ihr dann, Andrej Deläny? Ein Mensch doch wohl kaum.«
Statt zu antworten, sah Andrej ihn nur an, während er zugleich versuchte, sich einen Überblick über den Raum zu verschaffen. Abgesehen von Martius und Thobias befanden sich zwei Soldaten mit ihnen hier drin, aber draußen vor der Tür liefen immer mehr Männer zusammen, die wahrscheinlich durch den Lärm und Benedikts Schreie angelockt worden waren. Er war wieder weit genug bei Kräften, um sich einen Kampf mit Martius und den beiden Männern durchaus zuzutrauen - aber mit einem Dutzend Krieger?
»Vielleicht gibt es hier tatsächlich einen Teufel«, sagte er nach einer Weile.
»Aber ich bin es nicht.«
»Wie meint Ihr das?«, fragte der Inquisitor.
»Sprecht nicht mit ihm, Martius, ich beschwöre Euch!«, keuchte Thobias. Er stand auf, wobei er den reglosen Körper seines Vaters ohne die geringste Mühe in den Armen hielt. Er brachte es sogar noch fertig, in der gleichen Bewegung die Pritsche aufzurichten, die Andrej umgeworfen hatte. Martius betrachtete sein Tun stirnrunzelnd, aber schweigend, und Thobias fuhr aufgeregt fort: »Hört ihm nicht zu! Er verwirrt Eure Sinne, ich beschwöre Euch. Er hat auch Benedikt und mich getäuscht. Er redet mit der Zunge des Teufels! Verbrennt ihn!«
»Das ist seltsam«, erwiderte Martius nachdenklich, während sein Blick unablässig von Thobias zu Andrej glitt. »Es ist noch nicht lange her, da wart Ihr der Meinung, dass das alles hier nichts mit dem Teufel zu tun hat - oder irre ich mich?«