»Ich habe mich getäuscht!«, stammelte Thobias. »Dieser Teufel hat meine Sinne verwirrt, so wie er es jetzt mit Euren versucht! Glaubt mir! Ich ... ich sehe es jetzt ganz klar. Teufelsbrut. Sie alle sind des Teufels! Dieser ganze Ort ist ein Höllenpfuhl. Ihr müsst ihn ausbrennen! Tötet sie alle, solange Ihr es noch könnt!«
Martius wollte gerade zu einer Antwort ansetzen, aber in diesem Augenblick geschah etwas Schreckliches.
Der Leichnam des alten Mannes in Thobias Armen bewegte sich!
Martius' Augen wurden groß. Er sog scharf die Luft ein, und der Mann neben ihm hob instinktiv seine Armbrust und zielte auf Thobias. Auch der zweite Soldat fuhr herum und riss seine Waffe in die Höhe.
»Nicht!«, keuchte Thobias. »Es ist nicht so, wie Ihr glaubt! Ich kann das erklären!«
Für einen unendlich kurzen Moment schien die Zeit stillzustehen. Angst lag wie etwas körperlich Greifbares in der Luft, und Andrej wusste, dass die Männer schießen würden. Sie hatten einen Mann gesehen, der offensichtlich von den Toten auferstanden war, und nun erwachte ein weiterer vermeintlich Toter unmittelbar vor ihren Augen; sie konnten gar nicht anders, als mit Entsetzen zu reagieren und ihre Waffen abzufeuern.
Und Andrej begriff auch, dass dies seine vielleicht einzige und allerletzte Möglichkeit war, hier herauszukommen. Aber er regte sich nicht, und auch die Männer feuerten ihre Armbrüste nicht ab. Etwas ... geschah. Die Zeit floss weiter, aber Andrej war plötzlich nicht mehr in der Lage, sich zu bewegen; als wäre die Verbindung zwischen seinen Gedanken und seinem Körper auf geheimnisvolle Weise unterbrochen. Den beiden Soldaten und auch Martius erging es sichtlich nicht anders.
»Ich flehe Euch an, Exzellenz!« Thobias sah den Inquisitor beschwörend an und bettete den Körper seines Vaters zugleich behutsam auf die Pritsche. Der alte Mann stöhnte. Er begann am ganzen Leib zu zittern, und selbst die schreckliche Wunde in seiner Schulter blutete nun wieder.
»Was ... bedeutet ... das?«, stieß Martius mühsam hervor. »Das ist Zauberei!«
Seine Stimme schwankte, und sein Gesicht war weiß vor Entsetzen. Er umklammerte das Kruzifix vor seiner Brust mittlerweile so fest, dass Blut unter seinen Fingernägeln hervorquoll. Trotzdem lockerte er seinen Griff nicht, als wäre der Schmerz, den er sich selbst zufügte, das Einzige, was ihn noch davon trennte, endgültig den Verstand zu verlieren.
»Nein, das ist es nicht«, antwortete Thobias. »Ich kann es erklären, wenn Ihr mir die Gelegenheit dazu gebt, Martius ... Bitte!«
Der Inquisitor begann stärker zu zittern. Seine Hand hatte plötzlich nicht mehr die Kraft, Andrejs Schwert zu halten. Es polterte zu Boden. Niemand reagierte darauf.
»Was ... was geschieht hier?«, stöhnte Martius. »Sprecht!«
Thobias beugte sich über seinen Vater und legte ihm die Hand auf die Stirn.
Der alte Mann keuchte, bäumte sich wie unter Krämpfen auf und sank mit einem gurgelnden Laut wieder zurück. Die Wunde in seiner Schulter begann zu schäumen, und plötzlich roch es nach verbranntem Fleisch. Martius stöhnte erneut auf, und einer der Soldaten begann zu würgen.
»Allein ...«, stammelte Thobias. »Ich erkläre es Euch, aber allein. Nur Ihr und ich.«
»Seid Ihr von Sinnen?«, murmelte Martius. Aber seine Stimme klang falsch. Die Worte sollten Empörung zum Ausdruck bringen, aber seine Stimme klang völlig anders - als koste es ihn all seine Kraft, die Worte auch nur auszusprechen.
»Glaubt mir, Martius, was ich Euch sagen werde, ist nur für Eure Ohren bestimmt. Ihr wollt bestimmt nicht, dass jedermann es hört.«
Martius starrte Thobias an. Sekundenlang spiegelte sich der innere Kampf, den er ausfocht, deutlich auf seinem Gesicht, dann nickte er; langsam und widerwillig.
»Also gut«, presste er mühsam hervor. Ebenso mühsam drehte er sich zur Tür und hob die Hand. »Schließt die Tür. Niemand kommt herein, bevor ich ihn rufe. Ihr beide bleibt hier.«
Der letzte Satz galt den beiden Soldaten, die mit ihm hereingekommen waren.
Beide Männer waren bereits auf dem Weg zur Tür gewesen und hielten jetzt mit, leeren, schreckensbleichen Gesichtern inne.
»Ganz, wie Ihr wünscht, Herr«, sagte Thobias mit seltsamer Betonung. Er legte den Riegel vor, drehte sich ohne die mindeste Hast herum und trat auf einen der beiden Soldaten zu. Ein sonderbarer Ausdruck, fast ein Lächeln, erschien auf seinem Gesicht, als er die Hand hob und auf den zweiten Soldaten deutete.
»Töte ihn«, befahl er.
Andrej wollte sich auf ihn stürzen, aber er konnte es nicht. Er hatte die Herrschaft über seinen Körper noch immer nicht wiedererlangt.
Ebenso wenig wie der bedauernswerte Soldat. Der Mann starrte Thobias aus aufgerissenen Augen an. Er begann zu zittern. Ein gequälter Ausdruck erschien auf seinen Zügen, als er die Armbrust hob und sich halb herumdrehte.
Unendlich langsam, wie gegen einen furchtbaren, unsichtbaren Wiederstand ankämpfend, richtete er die Waffe auf seinen Kameraden.
»Nein«, wimmerte er. »Ich ... ich kann ... das ... nicht.«
»Tu es!«, sagte Thobias lächelnd.
Der Soldat wimmerte wie unter unerträglichen Schmerzen, hob die Armbrust weiter und betätigte den Abzug. Sein Kamerad wurde nach hinten geschleudert und brach lautlos zusammen, und der Soldat ließ keuchend die Waffe fallen. Er krümmte sich.
»Gut gemacht«, lobte Thobias. »Jetzt du. Dein Dolch!«
»Herr!«, stammelte der Mann. »Ich ...«
Thobias stieß einen unwilligen Laut aus, riss den Dolch aus dem Gürtel des Mannes und stieß ihm die Klinge bis ans Heft in die Brust. Er seufzte.
Lächelnd drehte er sich zu Andrej und Martius um, schüttelte bedauernd den Kopf und warf den Dolch zu Boden.
Das helle Klirren brach den Bann. Von einem Herzschlag auf den anderen reagierte Andrej. Mit einer blitzschnellen Bewegung bückte er sich nach dem Schwert, das Martius fallen gelassen hatte, riss es hoch und stürzte weiter.
»Nicht doch«, sagte Thobias.
Andrej erstarrte. Mit einem ungläubigen Keuchen taumelte er zurück, blieb stehen und blickte seine rechte Hand an, die einen eigenen Willen entwickelt zu haben schien und sich langsam senkte. Die Finger öffneten sich, und das Schwert klirrte ein zweites Mal zu Boden.
»Das ist schon besser«, lobte Thobias. »Ihr seid stark, Andrej. Erstaunlich stark. Ich muss Euch besser im Auge behalten, scheint mir. Aber Ihr werdet einen umso wertvolleren Verbündeten abgeben, wenn Euch das ein Trost ist.«
Verzweifelt stemmte sich Andrej gegen die unsichtbaren Fesseln, die seinen Willen gefangen hielten, aber es gelang ihm nicht, sie auch nur zu lockern.
Der fremde Wille, der den Befehl über seinen Körper übernommen hatte, war nicht Thobias' Wille. Es war etwas anderes, Stärkeres. Etwas, das tief in ihm geschlummert und auf seine Gelegenheit gewartet hatte. Der Wolf war endgültig erwacht.
»Kämpfe nicht dagegen an, Andrej«, sagte Thobias sanft. »Es ist sinnlos. Du gehörst schon mir. Hör auf, dich zu wehren. Du bereitest dir nur selbst Qual. Und es gibt nichts, was du fürchten müsstest, glaub mir.«
»Was ... bist ... du?«, stammelte Martius. Er umklammerte immer noch das Kruzifix. Blut lief über seinen Handrücken und zeichnete eine gezackte rote Spur bis in seinen Ärmel hinein. »Du bist der Teufel!«
»Nicht doch«, sagte Thobias kopfschüttelnd. Er warf einen raschen, prüfenden Blick auf seinen Vater - der alte Mann zitterte immer noch wie unter Krämpfen, aber die schreckliche Schulterwunde hatte sich mittlerweile fast ganz geschlossen. Darunter war etwas Dunkles zum Vorschein gekommen, das sich allmählich über seine Haut auszubreiten schien, Kein Schorf. Fell, dachte Andrej entsetzt.
Thobias ging auf Martius zu, hob den Arm und löste die Hand des Inquisitors gewaltsam von dem goldenen Kruzifix. Mit einem Ruck riss er die Kette entzwei und schleuderte das Kruzifix davon. Dann hob er Martius' Hand langsam vor sein Gesicht und betrachtete aus glitzernden Augen das Blut, das darauf schimmerte. Er schnüffelte, wie ein Hund, der Witterung aufgenommen hatte - und begann langsam, das Blut von Martius' Handrücken zu lecken.